Wallfahrtskultur in Tschechien: Ein Bildband erinnert an ihre Wurzeln
Jahrhunderte lang waren Gegenstände zur religiösen Andacht bedeutende Begleiter im Leben vieler Menschen. In der gehobenen Sprache ist von Devotionalien die Rede. Zentren des Devotionalienhandels waren seit jeher die Wallfahrtsorte, später auch die Kirmes oder Jahrmärkte. Auf die Spurensuche dieser Artefakte in der tschechischen Geschichte ist vor einigen Jahren Dr. Luboš Kafka von der Prager Akademie der Wissenschaften gegangen. Im Februar dieses Jahres ist das Resultat seiner Arbeit auf dem Büchermarkt erschienen: ein repräsentativer Bildband mit dem Titel „Geschenke von Wallfahrt und Kirmes“.
In der Volkskultur, der man auch die bildende Volks- und volkstümliche Kunst zuordnen kann, spielten die verschiedensten Erinnerungsstücke wie Heiligenbilder, Rosenkränze, Votivkerzen, Schutzengel, Putten aber auch Amulette, Skapuliere, Haussegen und viele andere oft sehr ausgefallene Schmuckstücke mit religiösen Motiven eine außerordentlich wichtige Rolle. Die Gläubigen kauften sie bei ihren Pilgerreisen für jede Gelegenheit zu Hause oder als Mitbringsel oder Glücksbringer für ihre Angehörigen oder sie hinterließen die Votivgaben als Geschenke an den Wallfahrtsorten.
In den historischen Böhmischen Ländern wurde diese Tradition Jahrhunderte lang gepflegt, doch nach 40 Jahren des kommunistischen Regimes schien sie an den Rand des Aussterbens gelangt zu sein. In den letzten Jahren bemüht man sich mancherorts indes um ihre Wiederbelebung. Diese erlebt sie allerdings auch im Buch von Luboš Kafka. Für ihn sei es eine Herzenssache gewesen, sagt der Mittvierziger. Wie hat er also zu diesem fast in Vergessenheit geratenenen Thema gefunden?„Meine Kindheit hat es nicht begleitet. Meine Eltern sind nicht gläubig und meine Großmütter konnten mich nur wenig beeinflußen. Es waren aber einige Dinge, die in meinem Elternhaus hier und dort herumlagen, auf Kommoden oder auch in einer Kiste auf dem Dachboden. Mit der Materie habe ich ich mich aber erst nach meinem Studium der Volkskunde vertraut gemacht. Für mich waren es Artefakte, die ich im Laufe der Zeit immer mehr lieb gewonnen habe.“
Doch nicht alle gehören sie in die Kategorie der Volkskunst. Oft geht es um industriell hergestellte Gegenstände, die ihre in Manufakturen angefertigten Vorgänger ersetzt haben. Es waren sehr verbreitete und billige Gegenstände.
„Nach und nach haben sie mich angesprochen. Wahrscheinlich deswegen, weil ich auf diese Sachen oft in ihrem herkömmlichen Ambiente gestoßen bin und damit auch die Beziehung der Inhaber zu ihnen noch wahrnemen konnte. Das waren Menschen, die ihre Wohnräume, mit diesen Gegenständen buchstäblich wie mit wervollen Juwelen geschmückt haben. Für mich war das sehr beeindruckend. Oft glaubte ich, die zahlreichen Gebete aus diesen Gegenständen zu spüren. Wenn sich jemand einen Rosenkranz bei einer Wallfahrt verschaffte und mit ihm das gaze Leben betete, dann ist in dem materiellen Gegenstand sicherlich auch etwas nicht Materielles enthalten.“
Der Autor des umfassenden Bildbandes „Geschenke von der Wallfahrt und der Kirmes“, der die vielfältige Volkskunstproduktion von Devotionalien anhand von über 400 Fotos veranschaulicht, hat sich nicht auf das Territorium der Böhmischen Länder beschränkt. Die Jahrhunderte lang überwiegend katholisch geprägten Landesteile Böhmen und Mähren waren ja keine Insel mitten in Europa, deren Religiosität einen rein spezifischen Ausdruck in der Volkskunst gefunden hätte. Im Gegenteil.Der Einfluss der Nachbarländer Bayern und Österreich war von großer Bedeutung. Kafka hat diesen Kontext auch in seinem Buch gewahrt. Eigentlich noch mehr als das. Seine Ausführungen, die auf den Archivrecherchen bauen, konnte er oft nur mit Abbildungen von Gegenständen untermauern, die heutzutage nur in einem der genannten Nachbarländer zu finden sind. In Tschechien selbst ist vieles verloren gegangen. In Böhmen finde man nur schwer eine Kirche, die über eine Kollektion von Votivgaben verfügt.
In unserem Gespräch habe ich mich allerdings für die Ursachen der schwindenden Tradition interessiert, die hierzulande mit der schwindenden Religiosität vor sich ging:
„Hierzulande geht es eigentlich um eine lange Entwicklung. Im Lauf des 19. Jahrhunderts, kam es im Prozess der fortschreitenden Industrialisierung, die die Böhmischen Länder europaweit in eine Region mit hohem Wirtschaftspotential verwandelte, zu einer Atheisierung der tschechischen Gesellschaft. Schon damals, anders als zum Beispiel in Österreich oder Bayern, setzte ein Rückgang der Zahl der Gläubigen ein. Diese Entwicklung wurde später auch durch die verhältnismäßig hohe Liberalität in der Ersten Republik beeinflusst. Nach 1948 hat dieser Trend mit der Verfolgung der Religiosität an Stärke gewonnen. Im Endeffekt sind wir eine der atheistischsten Gesellschaften in Europa geworden.“
Es kam also nicht erst unter den Kommunisten, wie allgemein angenommen wird, zu einer Unterbrechung der alten Wallfahrtstradition in der Tschechoslowakei. Luboš Kafka:
„Die Kontinuität ist eigentlich schon während des Zweiten Weltkrieges unterbrochen worden. Damals waren jegliche Prozessionen verboten. Nach dem Krieg kam es für eine kurze Zeit, drei bis fünf Jahre etwa, zu einer Wiederbelebung dieser Tradition. Danach aber hat man Prozessionen verboten, die einen religiösen Hintergrund hatten. Dadurch ging die Attraktivität mancher Pilgerorte verloren. Auf der anderen Seite hat man die Kirmes gefördert, bei der das Religiöse längst verschwunden war. Ein typisches Beispiel ist die Kirmes „Matějská“ in Prag. Zunächst wurde sie von ihrem ursprünglichen Standort bei der Mathäuskirche nach Dejvice und und etwas später nach Holešovice verlegt.“Auf dem Messegelände im 7. Stadtbezirk von Prag ist die „Matějská“-Kirmes, die in diesem Jahr bereits zum 47. Mal stattfindet, auf eine rein kommerzielle Veranstaltung mit unzähligen Karussells und Schaukeln jeder Art und natürlich auch mit vielen Imbißbuden.geschrumpft. Und damit wurde auch jeder reliogiöse Zusammenhang der „Matějská“, die schon im 16. Jahrhundert abgehalten wurde, definitiv ausgelöscht. Eine Wallfahrt in der Vorwendezeit zu veranstalten war äußerst schwierig oder direkt unmöglich. Damals konnten die Gläubigen vor allem individuell bekannte Pilgerorte besuchen. Und wenn gelegenntlich auch Gruppenausflüge organisiert wurden, dann unter dem Deckmantel einer touristischen Erkundungsfahrt, die „nebenbei“ auch einen Kirchenbesuch auf dem Programm hatte.
Wie war die Situation an der Akademie der Wissenschaften vor dem Jahr 1989. War es damals möglich, sich mit solchen Themen wie zum Beispiel Wallfahrten, Votivgegenständen, Weihnachtskrippen und Ähnlichem zu befassen?
„Ich bin in unser Institut im Jahr 1988 gekommen, als die Verhältnisse schon etwas lockerer waren. Natürlich weiß ich, wie es um diese Bereiche als potentielle Forschungsthemen bestellt war. Es waren im Prinzip Bereiche, mit denen sich offiziell niemand beschäftigte und denen man auszuweichen pflegte. Es geschah höchstens etwas auf dem musealen Gebiet. Man hat die Gegenstände gesammelt, aber sehr unsystematisch. Im Prinzip hing es von den Mitarbeitern des jeweiligen Museums ab. Sie wurden aber in Depositaren gelagert, ohne dass sie den Besuchern gezeigt wurden. Diese Situation dauerte praktisch bis zum Ende der 1980er Jahre. Das Thema meiner Diplomarbeit war die religiöse Volkskunstmalerei auf Glas. Damals glaubte ich, dass es etwas für die Schublade ist und dass ich mich danach solchen Themen nicht mehr zuwenden kann.“
Mit der Wende vor 20 Jahren ist wieder eine ideologische Entspannung eingetreten. Trotz erneuter Wiederbelebung der Veranstaltung von Prozessionen ist es aber nicht zu übersehen, dass die Kontinuität dieser Tradion unterbrochen wurde. Auch wenn der Leitgedanke religiös ist, sind diese Aktionen heutzutage auch durch kommerzielle Ziele oder den Tourismus beeinflusst. Nach Kafkas Meinung haben sie mittlerweile die Oberhand über die alte Tradition der herkömmlichen Prozessionen gewonnen, die seinerzeit als bescheidener Ausdruck der Askese und religiösen Glaubens galten. Die religiösen Gegenstände anzubieten ist heutzutage zwar nicht verboten, aber trotzdem ist hierzulande etwas verloren gegangen.
„Bei uns wurden Jahrzehnte lang die Bindungen der Menschen zu konkreten Regionen zerstört. Ebenso die Bindung zur Religion und der Geschichte. Unsere Gesellschaft ist in gewisser Hinsicht wie ein Baum ohne Wurzeln. Ich halte dies für das wahrscheinlich größte Verbrechen in der Zeit nach 1945 bis Ende der 1990er Jahre. Im Inneren vieler Menschen kam es zur Unterbrechung der historischen Kontinuität. Man hat auf eine Reihe von Werten verzichtet und dadurch ist ein Vakuum entstanden.“
Immerhin, die Wallfahrtskultur kennt jetzt wieder keine Grenzen, sagt Kafka. Sie sei ein übernationales Phänomen, das Menschen aufgrund ihres gemeinsamen Glaubens vereint. Bekannte Pilgerorte Europas oder die im Heiligen Land werden schließlich seit jeher von Pilgern aus vielen Ländern aufgesucht. Einige sind auch auf der religiösen Landkarte Tschechiens zu finden und konnten auch in Kafkas Buch nicht unerwähnt bleiben. Kann das Buch auch die Wissenslöcher der Tschechen füllen?
„Ob es ein großes Loch füllen wird, das weiß ich nicht. Aber es könnte hoffentlich als eine Erinnerung an die Wurzeln funktionieren.“