Was, wenn Kafka 1924 nicht gestorben wäre? Romanautor Bernhard Setzwein im Gespräch

Am 3. Juni wird der 100. Todestag des Schriftstellers Franz Kafka begangen. Doch was wäre, wenn Kafka 1924 gar nicht gestorben wäre? Mit diesem Gedanken spielt Bernhard Setzwein in seinem Roman „Kafkas Reise durch die bucklige Welt“. Sein Franz Kafka taucht in den Nachkriegsjahren wieder auf. Einer Nacht im Jahr 1960 trifft er auf einen jungen Mann, mit dem er spontan auf eine Reise geht, die sie nach Graz, Wien und München führt. In Gesprächen mit dem polnischen Schriftsteller Marek Hłasko blickt Kafka auf sein früheres Leben und Schreiben zurück.

Herr Setzwein, vor Kurzem ist Ihr Roman „Kafkas Reise durch die bucklige Welt“ erschienen. Er wird im Kafka-Jahr herausgegeben. Seit wann begleitet Sie die Idee, einen Roman über Kafka zu schreiben?

Bernhard Setzwein | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

„Kafka begleitet mich seit meinen Schultagen. Es war bei uns üblich, dass Kafka im Schulunterricht gelesen wurde. Er gehörte zum literarischen Kanon. Er hat mich sofort elektrisiert, schon mit 16 oder 17 Jahren. Zuerst habe ich ‚Die Verwandlung‘ gelesen, dann sehr schnell auch alles weitere. Und ich hatte über die Jahre hinweg die Idee, einmal etwas zu ihm zu schreiben. Aber ich fand nicht den richtigen Zugang. Aber dann sah ich, dass das 100. Todesjahr auf uns zukommt, und dachte mir, jetzt musst du die Gelegenheit beim Schopf packen. Ich habe dann einen Dreh gefunden, wo es auch für mich interessant war, dieses Buch zu schreiben.“

Das Buch ist eigentlich ein Spiel. Die Idee, auf der es basiert, ist sehr phantasievoll, und zwar: Was wäre, wenn Kafka seine schwere Krankheit überlebt und weiter gelebt hätte. Wie sind Sie darauf gekommen?

„Nachdem Kafka ja Jude war, könnte man auch sagen, das ist eine Chuzpe, also eine etwas freche Herangehensweise. Ich hatte den Eindruck, dass es schon so viel seröse Literatur über ihn gibt, vor allem in Deutschland in Form der dreibändigen Biographie von Reiner Stach, die unübertroffen ist. Diese Richtung brauchte ich also nicht einschlagen. Nachdem ich sowieso ein Anhänger davon bin, manche Dinge gedankenexperimentell, gedankenspielerisch durchzugehen, habe ich mir eben diese Frage gestellt, was wäre, wenn er weitergelebt hätte. Und das hat dann meine Fantasie freigesetzt.“

Kartenabreißer in Meran

Was für ein Schicksal haben Sie für Kafka erdacht? Wohin führen Sie ihn?

Bernhard Setzwein,  'Kafkas Reise durch die bucklige Welt' | Foto: Lichtung-Verlag

„Erst einmal landet er nach dem Krieg in Meran. Der reale Franz Kafka war nämlich auch in Meran, er hat dort für drei Monate eine Kur absolviert. Es hat ihm dort gefallen, denn dort war es sehr sonnig, warm und es gab gutes Essen… In meinem Roman ist er dort Kartenabreißer in einem Kino. Denn auch der reale Kafka war ein großer Fan vom Kino und der Filmwelt. Dann trifft er einen jungen polnischen Schriftsteller, Marek Hłasko, den es auch wirklich gegeben hat. Er hat unter den Kommunisten gelitten und wurde aus seiner Heimat hinausgeworfen. Kafka erkennt sich wider in diesem jungen Mann, und das löst in ihm Erinnerungen an sein früheres Leben aus. In den Roman habe ich viele Realien in Form von Rückblenden eingebaut, die mit Kafkas wahrem Leben zu tun haben.“

Wie lange lassen Sie Kafka leben?

„Da spielen Sie auf den Schluss des Romans an, der ein bisschen offen ist. Da geht Kafka quasi so in die Menge hinein und verschwindet unter allen anderen. Es bleibt offen, ob er überhaupt sterben wird, ob das Ganze vielleicht nur ein Traum war… Ich liebe offene Enden.“

Kafka trifft seine Romanfiguren

Findet man in Ihrem Roman Anspielungen an die Werke von Franz Kafka oder an reale Momente aus seinem Leben?

Franz Kafka mit seiner Schwester Ottla in Siřem | Foto: Galerie Kafka

„Ja, beides. Es werden viele biografische Fakten und Details miteingearbeitet. Und auch sein Werk spielt immer wieder eine Rolle. Es sind teilweise kleine Zitate eingebaut, es werden kleine Erzählungen auf eine modernere Art umgeschrieben. Und es kommt ein Kapitel vor, das mir besonders wichtig war und mir beim Schreiben großen Spaß gemacht hat: Kafka kommt noch einmal zu einem Schloss. Es ist ein bisschen anders, und doch sehr ähnlich zu seinem Schloss. Er trifft seine eigenen Romanfiguren, und es kommt zu einem Dialog mit ihnen, der nicht immer angenehm für ihn ist.“

Wenn Sie Kafka zu einem Romanhelden machen, dann müssen Sie eine genaue Vorstellung im Kopf davon haben, was für ein Mensch er war. Wissen Sie das? Haben Sie das anhand seiner Bücher beziehungsweise seiner Briefe erfahren?

„Das Leben des realen Franz Kafka ist genau dokumentiert, so gut wie kaum ein anderes. Wir wissen fast über jede Woche Bescheid, wissen, was er getan hat, wo er war. Und wenn man noch die Bücher und Tagebücher liest, kann man schon ein relativ genaues Bild von ihm bekommen. Er war sicher ein sehr diskreter Mensch, er hasste Streit und ist dem immer aus dem Weg gegangen, wo er nur konnte. Das merkt man auch in meinem Buch: Immer wenn etwas brenzlig wird, weicht er zurück. Er war ein sehr zurückhaltender und zurückweichender Mensch.“

Man kann Vieles in ihm hineinlesen

Wie ist es Ihrer Meinung nach dazu gekommen, dass aus Kafka ein so berühmter Autor wurde? Erst viel später nach seinem Tod und nachdem sein Werk abgeschlossen wurde…

Bernhard Setzwein | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

„Das ist eine Frage, die ich mir immer wieder stelle. Ich finde keine Antwort darauf. Seine drei Romane sind alle Fragmente  geblieben, es ist irgendwie ein verunglücktes Werk, das er hinterlässt. Aber vielleicht liegt gerade darin die Chance, ihn immer in anderen Richtungen zu sehen und zu lesen. Diese Offenheit nach allen Seiten hin führt wahrscheinlich dazu, dass man so viel in ihm hineinlesen kann.“

Schlagen wir jetzt eine Brücke von Kafka zu Ihrer Person. Kafka stammte aus Prag, Sie haben eine enge Beziehung zu Tschechien, zumindest in den letzten über 30 Jahren. Wie kam es dazu, dass Sie nach der Wende an die deutsch-tschechische Grenze gezogen sind und sich nun im Leben an der Grenze engagieren?

„Ich bin im Wendejahr 1990 an die bayerisch-tschechische Grenze gezogen, das war mehr oder minder biografischer Zufall. Aber Sie haben völlig Recht, davor war mir Kafka auch sehr rätselhaft. Er nennt nie einen Ortsnamen in seinen Texten. Man weiß nie, wo sich das abspielt. Das alles war für mich fremd und geheimnisvoll. Und dann – mit dem Fall des Eisernen Vorhangs – lernte ich Tschechien kennen. Ich bin viel hinübergefahren, lernte Prag kennen. Ich atmete diese Atmosphäre ein. Ich lernte so viele böhmische Schlösser kennen, die ein Vorbild für den Kafka-Roman gewesen sein könnten. Und so hat sich das für mich immer mehr konkretisiert. Ich verstand plötzlich die Welt, aus der er kam. Das ist, glaube ich, auch wichtig, wenn man ihn restlos verstehen will.“

Geheimnisvoll und rätselhaft

Sie haben Tschechien auch zum Spielort Ihrer Bücher gemacht, vor allem das bayerisch-böhmische Grenzgebiet, in dem mehrere Ihrer Romane spielen. Der erste dieser Titel war „Die grüne Jungfer“…

Bernhard Setzwein,  'Der böhmische Samurai' | Foto: Haymon Verlag

„Ja, damit ging es los. Ich habe eine Roman-Trilogie über die Wendezeit geschrieben. Wie erwähnt, bin ich 1990 an die Grenze gezogen und habe es immer als meinen Auftrag verstanden, diese Wendezeit, die unheimlich spannend war, festzuhalten. Diese drei Romane spielen alle in den frühen 1990er Jahren. Diese ganze Dynamik, die sich da entwickelt hat, die Umbrüche in den Biografien, das habe ich versucht einzufangen.“

Im Grenzgebiet spielt auch Ihr letzter Roman, der vor dem Kafka-Buch erschienen ist: „Der böhmische Samurai“. Wer ist dieser Samurai?

„Ich habe ein großes Interesse an wahren historischen Biografien, die ich immer wieder aufgreife. Auch bei diesem Roman steht eine ganze Familiengeschichte im Hintergrund, nämlich die der Familie Coudenhove-Kalergi. Richard Coudenhove war Begründer der Paneuropa-Bewegung, die 1920 gegründet wurde und eine Art Vorläufergeschichte der Vereinigten europäischen Staaten darstellte. Diese Familie, die sehr interessante Seitenzweige hat, war ein gefundenes Fressen für einen Romanautor.“

Böhmisch-bayerische Grenzregion

Sie leben seit der Wende in der Grenzregion. Wie würden Sie heute diese Region beschreiben? Hat sich viel verändert?

„Ja sicher. Der Austausch ist fast alltäglich geworden. Auch ich habe so viele Kollegen in Tschechien kennengelernt, die ich sehr schätze. Ein Theaterstück von mir über Bohumil Hrabal ist in Brünn aufgeführt worden. Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, der Eiserne Vorhang würde noch da sein, es wäre grauenhaft, was da gekappt wäre in meinem Leben.“

Sie haben das Theaterstück erwähnt. Womit hat Sie gerade Bohumil Hrabal inspiriert, ihm ein Stück zu widmen?

„Ich stelle immer wieder fest – und darin liegt mein großes Interesse auch an tschechischer Literatur, Kultur und den Menschen aus dem Nachbarland begründet –, dass es eine verwandte Art von Humor zwischen Bayern und Böhmen gibt. Ich betone Bayern, denn das gilt nicht für ganz Deutschland. Ich finde in Tschechien immer wieder Seelenfreunde und etwas Verwandtes mit mir. So ist es auch bei Hrabal, der übrigens ein großer Verehrer von Franz Kafka war. Also auch da gibt es immer wieder diese Verbindungen, und dabei schwingt immer Tragik aber auch Komik mit.“

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