Weihnachten im Prager Tagblatt

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Das Prager Tagblatt war eine Institution. 64 Jahre lang erschien die liberale Zeitung, bis sie 1939 von den Nazis eingestellt wurde. In der Zwischenkriegszeit versammelte das Blatt Autoren von Rang und Namen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, zugleich wurden Beiträge tschechischer Schriftsteller und Journalisten publiziert. Einen hervorragenden Ruf genossen vor allem das Feuilleton und die Unterhaltungsbeilagen. Wir haben in den Weihnachtsausgaben des Prager Tagblatts geblättert und kuriose, verblüffende und denkwürdige Texte von bekannten und vergessenen Autoren gefunden. Sie stammen aus den Jahren 1930 bis 1936.

Heinrich Mercy  (Foto: Public Domain)
Das Prager Tagblatt galt zu seiner Zeit als eine der besten deutschsprachigen Tageszeitungen. Hervorgegangen war es aus einem Anzeigenblatt von Heinrich Mercy. 1875 stellte der Unternehmer bei der Prager Polizeidirektion einen Antrag für eine Druckerlaubnis:

„Der ehrfurchtsvoll Unterzeichnete beabsichtigt eine cautionspflichtige periodische Druckschrift herauszugeben. Die selbe soll den Titel ‚Prager Tagblatt‘ führen, jeden Tag erscheinen und sich dem Inhalt nach der politischen Information widmen, jedoch in erster Reihe unter Vermeidung nationaler Polemik dem lokalen Verkehr und Communalinteressen Prags dienen.“

Mit dem Anspruch, „nationale Polemik“ zu vermeiden, nahm das Tagblatt eine Sonderstellung ein – im Habsburgerreich vor dem Ersten Weltkrieg wie auch in der Tschechoslowakei. Herausgearbeitet hat das zuletzt der Historiker Pavel Doležal in seiner Dissertation. Die Redakteure der Zeitung, oftmals zweisprachig, bekannten sich zur Republik unter Tomáš G. Masaryk und versuchten mit ihrer Berichterstattung die Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen zu fördern. Das Lesepublikum, dass Mercy ansprechen wollte, waren Industrielle, Gewerbetreibende, kurzum: das liberale, demokratisch gesinnte Bürgertum. Mit zunehmendem Erfolg stieg die Belegschaft in der Herrengasse / Panská von anfangs zwei auf bis zu 30 Redakteure. Nach und nach konnte sich die zunächst vor allem auf Wirtschaft fokussierte Zeitung eine ausführliche Kulturberichterstattung und damit auch ausgezeichnete Autoren leisten.

Die Unterhaltungsbeilage für Sonn- und Feiertage wurde 1918 eingeführt. Ihre besten Zeiten erlebte sie, als Max Brod in den 1920er Jahren die Leitung übernahm. Der zweisprachige Impresario, der sich in der deutschen und tschechischen Kultur gleichermaßen zuhause fühlte, versammelte Schriftsteller von Rang und Namen. Für die Literatur- und Unterhaltungsbeilage schrieben eben nicht nur Prager Deutsche wie Egon Erwin Kisch, Paul Leppin, Rudolf Fuchs und Oskar Wiener. Das Tagblatt verfügte auch über ein umfassendes Korrespondenten-Netzwerk in ganz Europa, druckte berühmte Schriftsteller und Journalisten, darunter Thomas Mann, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Alfred Polgar oder Egon Friedell. Zugleich vermittelte die Zeitung einen Überblick über das tschechische Kulturleben und schöpfte aus dem Nebeneinander der beiden Sprachen in Prag. Regelmäßig erschienen Artikel von Jaroslav Hašek, Vitěžlav Nezval oder Karel Poláček. Der Historiker Pavel Doležal bezeichnet die Zeitung denn auch als „deutschsprachiges Blatt mit übernationalem Geist“.

Inhaltlich bot die Unterhaltungsbeilage ein buntes Sammelsurium von Gedichten, Reportagen, Skizzen, Buchauszügen, Karikaturen und Umfragen. Sie bildete Zeitgeist ab, ohne sich im aktuellen Geschehen zu verbeißen. Darum sind gerade die Unterhaltungsbeilagen bis heute lesenswert. Ein anonymer Prager wünschte sich auf seinem Weihnachtswunschzettel 1935 „weniger Zugluft“ in den Prager Straßenbahnen und die Einführung von Rauchsalons im Theater. Die heute vergessene Berliner Feuilletonistin Polly Tieck fragte sich 1930 nach dem Sinn von Weihnachten, zwischen Einkaufsstress und Tannenkitsch:

„Alle Jahre wieder Spielt unser Grammophon rührende Kinderlieder, Wir weinen und wissen nicht, warum und für wen, Am nächsten Tag spielts wieder: I’m in love again.“

Theodor Lessing  (Foto: Nicola Perscheid,  Public Domain)
Oft ist die Rede vom Nebeneinander der deutsch-jüdisch-tschechischen Kultur in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Beim Blättern im Prager Tagblatt wird sie greifbar. In der Weihnachtsausgabe 1930 etwa beschrieb der jüdische Philosoph und Publizist Theodor Lessing in einer humorigen Zukunftsvision das Schicksal einer „Leihtanne“. Drei Jahre später, Weihnachten 1933, findet sich im Blatt Karel Čapeks Weihnachtsgeschichte „Heilige Nacht“. Beide Autoren wurden zu Opfern der Nationalsozialisten. Lessing musste 1933 aus Hannover fliehen und wurde im gleichen Jahr in Marienbad ermordet. Čapek starb am 25. Dezember 1938 – als gebrochener Mann nach dem Münchener Abkommen und dem Ende der Tschechoslowakei. Das Prager Tagblatt selbst wurde unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen in Prag im März 1938 eingestellt. Am 4. April 1938 erschien die letzte Ausgabe - bereits am nächsten Tag nahm die Besatzerzeitung "Der Neue Tag" den Betrieb in der Herrengasse auf.