Wie eine „studentische Diplomarbeit“: Reaktionen auf Ursula von der Leyens Europa-Rede
Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat am Mittwoch ihre erste Rede zur Lage der EU gehalten. In Tschechien trafen vor allem die ambitionierten Klimaziele auf Ablehnung.
Corona-Krise, Wiederbelebung der Wirtschaft, digitale Neuerungen, Menschenrechte, Weißrussland, Migrationspolitik. Fast 80 Minuten dauerte die erste Grundsatzrede von Ursula von der Leyen, und sie arbeitete sich an einer Fülle von aktuellen Themen ab.
„Es war das Bemühen zu erkennen, die Rede positiv klingen zu lassen. Ich würde von der Leyen aber vorhalten, dass sie sehr ausführlich war und wirklich alle Bereiche abdecken wollte. Wir sollten besser lernen, Reden zu halten, die auch der gewöhnliche Bürger versteht.“
So äußerte sich im unmittelbaren Anschluss an die Rede Dita Charanzová, Europaabgeordnete für die tschechische Partei Ano und Mitglied der liberalen Fraktion Renew Europe. Die Ansprache hatte mit einer längeren Passage zu den Folgen und Lehren aus der Corona-Pandemie begonnen. Die Europäer hätten in der Krise zusammengestanden, lobte von der Leyen, und kündigte den Aufbau einer EU-Agentur für biomedizinische Forschung an. Damit zeigte sich der Europaabgeordnete der tschechischen Piraten und Mitglied der Fraktion Grüne/EFA, Marcel Kolaja, zufrieden:
„Hier wird deutlich, dass für einen effektiven Kampf gegen die Pandemie ein einheitliches europäisches Vorgehen notwendig ist. Ich bin froh, dass die Kommissionspräsidentin sich für eine bessere Koordination im Gesundheitsbereich einsetzt und dass die Kompetenzen der europäischen Institutionen gestärkt werden sollen.“
Nach der Einschätzung von Kateřina Konečná von den Kommunisten (Fraktionsmitglied der Vereinten Europäischen Linken GUE//NGL) wiederum fehlten in der Rede konkrete Vorschläge, die den Worten von der Leyens ein größeres Gewicht verleihen könnten.
„Als positiv sehe ich, dass sie ähnliche Vorstellungen hat wie ich – wenn auch mit anderen Vorzeichen. Das heißt, wir sollten nicht mehr defensiv sein. Wir müssen uns aus der Schleife befreien, die von einer Krise in die andere führt und in der wir nur die Folgen bekämpfen. Wir sollten etwas Neues ausprobieren. Wie das aussehen soll, wurde aber nicht ausreichend erklärt.“
Ein konkreter Vorschlag traf in der tschechischen Politiklandschaft freilich auf deutliche Kritik. Ursula von der Leyen forderte, bis zum Jahr 2030 mehr Treibhausgase einzusparen, als bisher geplant. Das Minus sollte nicht nur 40 Prozent des Wertes von 1990 betragen, sondern 55 Prozent. Das lehnte nicht nur die Ano-Abgeordnete Charanzová ab, sondern vor allem auch Karel Havlíček. Der Parteilose hat als Minister sowohl das Ressort Industrie und Handel als auch Verkehr zu verantworten. Am Mittwochabend verwies er in einer Diskussionsrunde im Tschechischen Fernsehen darauf, dass die tschechische Energiegewinnung zu 50 Prozent von Kohle abhängig ist. Ein Rückbau gemäß dem Vorschlag von der Leyens sei in der vorgegebenen Zeit nicht zu schaffen:
„Nach unserer Meinung, die wir auch mit Fakten und Zahlen belegen können, sind 55 Prozent nicht umsetzbar. Aus meiner Sicht ist das eher eine Übung, vielleicht eine hübsche Diplomarbeit mit einem ambitionierten Ziel, bei der der Student aber ohne Fakten und Daten gearbeitet hat. Es geht nicht, dass wir zuerst die Ambitionen Europas festlegen und erst dann mit den einzelnen Ländern zu verhandeln beginnen. Wir sind nicht in der Lage, die 55 Prozent zusammenzubringen, denn wir können die Energiegewinnung bis zum Jahr 2030 nicht komplett umstellen. Die Kernenergie wird bis in die 2030er Jahre noch ausgebaut. Auch die Heizkraftwerke werden bis zu dieser Zeit nicht derart eingeschränkt, wie wir uns das vorgestellt haben.“
Věra Jourová, die EU-Kommissarin für Werte und Transparenz, wandte in der gleichen Sendung ein, dass die EU-Staaten tatsächlich unterschiedliche Voraussetzungen für entsprechende Investitionen hätten. Dafür gäbe es aber Finanzspritzen, und die EU-Staats- und Regierungschefs würden über den Vorschlag im Oktober zunächst weiter verhandeln. Sie selbst wünsche sich aber genauere Informationen:
„Ich fordere seit langem, dass wir konkrete Zahlen auf den Tisch bekommen. Wir brauchen Einschätzungen zu den möglichen Auswirkungen für die einzelnen Staaten, Regionen, Sektoren und auch Bürger. Die Maßnahmen müssen dennoch ergriffen werden, denn wir können nicht mit zusammengefalteten Händen zuschauen, wie sich der Klimawandel drastisch verschlimmert, und die folgende Generation dafür bezahlen lassen.“
Mit einem anderen Thema fühlte sich die Europaabgeordnete für die tschechischen Christdemokraten und Fraktionsmitglied der Europäischen Volkspartei, Michaela Šojdrová, noch konkret angesprochen. Ursula von der Leyen forderte im Zusammenhang mit den EU-Finanzen, die Haushaltsgelder besser zu schützen. Šojdrová kommentierte:
„Es ging darum, dass die Mittel nicht missbraucht werden, dass es nicht zu Korruption und nicht zum Interessenskonflikt kommt. Sie hat keine Mitgliedsstaaten genannt, aber wir alle wissen, um welche es geht.“
Nicht zuletzt wohl auch um Tschechien. Das EU-Parlament hatte sich erst im Juni mit einer Kritik zu Andrej Babiš (Partei Ano) geäußert. Dabei ging es um die Verbindung des tschechischen Premiers zum Agrofert-Konzern und einem möglichen Missbrauch von EU-Geldern.