„Wir brauchen euer Grundstück!“ – die letzte Enteignung vor der Wende

Foto: Post Bellum

Vor 40 Jahren hat eine Gruppe von Bürgerrechtlern die Charta 77 veröffentlicht. Das Dokument, mit dem der kommunistische Staat zur Einhaltung der Bürger- und Menschenrechte aufgefordert wurde, haben bis zur politischen Wende rund 1800 Menschen unterschrieben. Alle mussten jedoch Repressionen durch das Regime ertragen, und das bis zum letzten Moment. Dies zeigt die Geschichte einer Familie, die einfach nur selbständig-alternativ auf dem Land leben wollte.

Silvestra Chnapková  (Foto: Post Bellum)
Ständige Polizeikontrollen, Geldstrafen für nichts und wieder nichts, Schikanen auf der Arbeit und Enteignungen – das waren einige der Methoden, die der kommunistische Staatsapparat gegen unliebsame Bürger nutzte. Wer sich einmal dem Regime entgegenstellte, der hatte für immer Probleme. Für Sylvia Chňapková fing alles 1972 an, als sie mit ihrem damaligen Freund emigrieren wollte. Die zwei Gymnasiasten hatten keinen konkreten Plan, ihr Ziel war nur, in der Zeit der kommunistischen Normalisierung nach der Niederlage des Prager Frühlings etwas „Großes“ zu unternehmen. Nach der Flucht aus dem Elternhaus streunten sie in der Tschechoslowakei herum, bis die Polizei sie aufgriff und nach Hause brachte. Sylvia konnte noch das Abitur machen, das Studium an einer Hochschule wurde ihr jedoch dann verweigert. Deswegen arbeitete sie als Hilfskraft in der nordböhmischen Stadt Most / Brüx, wo sie auch aufgewachsen war. Was sie damals stark ärgerte, war die Umweltbelastung in der Industrieregion. Man habe sich dort wie begraben gefühlt, obwohl das Regime ständig davon gesprochen habe, dass dort der Fortschritt herrsche, erzählt sie heute:

Most
„Überall stank es nach Phenol, auch die Menschen in der Straßenbahn waren davon durchdrungen. Wenn Smog herrschte, war der Nebel so dicht, dass man kaum seine Hand vor den Augen sehen konnte. Die Menschen tasteten sich an den Häuserwänden entlang, weil man den Gehsteig nicht sehen konnte. Auf dem Weg in die Schule mussten wir uns als Kinder an den Händen halten, um uns nicht zu verirren. Ich erinnere mich auch an das Flüsschen Bělá, also ‚die Weiße‘. Mal war das Wasser grün, mal rot, mal violett, aber immer dickflüssig wie Brei.“

Spatzen fielen tot auf die Erde

Jaroslav Chnapko  (Foto: Post Bellum)
In Most lernte Sylvia ihren späteren Ehemann Jaroslav kennen. Seine Eltern arbeiteten beide in einem Chemiebetrieb, die Mutter kam dort bei einem der zahlreichen Unfälle uns Leben. Jaroslav machte eine Lehre als Schlosser und war auch eine gewisse Zeit in dem Chemie-Unternehmen angestellt.

„Das war eine riesengroße Fabrik, in die die Arbeiter mit Bussen gekarrt wurden. Unfälle waren dort an der Tagesordnung, beim Gasaustritt gingen die Sirenen los, und mit Bussen wurden die Menschen in Sicherheit gebracht. Bei einem solchen Unfall liefen ein älterer Kollege und ich zum Bus. Wir sahen eine Schar von Spatzen auffliegen – und plötzlich fielen diese tot auf die Erde. Nach ein paar Schritten brach auch mein Kollege zusammen. Ich rief um Hilfe, die anderen schrien uns aber nur: Schnell weg, schnell weg! Ich habe viele solche Situation dort erlebt.“

Chnapkos  (Foto: Post Bellum)
Jaroslav Chňapko hatte damals lange Haare, hörte Rockmusik und hatte die Nase voll von den Kommunisten. Lange Haare bei Jungen galten damals als Protestsymbol, und das Regime reagierte wütend. Jaroslav kaufte sich zum Beispiel ein altes Motorrad. Noch am gleichen Tag wurde er auf der Straße festgenommen und die ganze Nacht lang verhört. Ihm wurde unterstellt, dass er es gestohlen hätte. Als er mit Freunden bei einem Rockkonzert war, stürmte die Polizei herein und verprügelte alle. In Jaroslav und seinen Freunden regte sich immer intensiver der Widerstand – und als die Charta 77 entstand, war es für den jungen Mann klar, dass er sie unterschreibt. Er war gerade vom Militärdienst zurückgekommen:

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„Man ging irgendwohin und bekam eins mit dem Schlagstock. Immer befahl jemand, wie man angezogen oder gekämmt sein sollte. Das hat mich am meisten geärgert. Politik hat mich gar nicht interessiert, ich war damals 21 Jahre alt. Mit dem Text der Charta war ich aber einverstanden. Dort stand nichts anderes, als eine Aufforderung an den Staat, die Gesetze einzuhalten. Soweit ich das verstand, war die Unterschrift unter die Charta nicht strafbar, die Verbreitung des Textes aber schon. Nur wenige Tage nach meiner Unterschrift wurde ich von der Staatssicherheit vorgeladen. Man fragte mich beim Verhör, woher ich den Text hätte und von wem. Meine Antwort lautete immer, dass ich nicht aussagen würde. Denn mir war klar: Verriet man jemanden beim Verhör, konnte dieser auch festgenommen werden.“

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Etwa ein Jahr später kaufte Jaroslav mit seiner Freundin Sylvia und mit einige Kumpels einen alten Bauernhof in Nová Víska / Neudörfel bei Chomutov / Komotau. Diesen bezogen sie gemeinsam, es war also eine Art Kommune außerhalb der offiziellen Strukturen. Konzerte wurden dort organisiert, und Dissidenten aus dem ganzen Land versammelten sich dort, um zum Beispiel die Undergroundzeitschrift „Wokno“ zu produzieren. Ständig war jedoch auch die Polizei ungebetener Stammgast. Alle Ankommenden wurden kontrolliert, falls sie mit Auto kamen, wurden ihnen die Fahrzeugpapiere abgenommen. Nicht einmal drei Jahre lang konnte sich die Kommune halten. 1980 wurde den Freunden das Haus entzogen.

Die Stasi löst die Landkommune auf

Ehemalige Mühle in Osvračín  (Foto: Post Bellum)
Damit endeten aber die Repressionen nicht. Die Staatspolizei versuchte, die Dissidenten ins Exil zu vertreiben. Jaroslav und Sylvia weigerten sich aber. Sie suchten stattdessen ein neues Haus auf dem Land, wo sie möglichst frei und unabhängig vom Staat leben konnten. Die tschechoslowakische Stasi verhinderte, dass sie ein Anwesen kaufen konnten. Doch gelang es ihnen schließlich, über Sylvias Mutter an eine ehemalige Mühle in Osvračín in Westböhmen zu kommen. Sylvia Chňapková:

„Über eine Zeitungsanzeige fanden wir ein großes Anwesen am Rande der Gemeinde. Das passte gut, denn wir wollten nicht wirklich in Einsamkeit leben, damit unsere Tochter problemlos in die Schule gehen konnte. Wir hatten etwas Geld gespart, etwas erbten wir von Jaroslavs Eltern, und ich nahm noch einen Kredit für Jungvermählte auf. Natürlich mussten wir zur Arbeit gehen, selbständig Landwirtschaft zu betreiben war damals nicht möglich. Das Haus wurde nicht auf uns, sondern auf meine Mutti ins Grundbuch eingetragen.“

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Die Schikanen durch die StB gingen aber weiter. Noch bevor die junge Familie ihr neues Haus beziehen konnte, wurde in ihrer alten Wohnung in Most eine Haussuchung durchgeführt. Sie mussten also schnell nach Osvračín umziehen, damit das Haus nicht zum Beispiel „zufällig“ ausbrannte. Doch voller Hoffnung stürzten sich die beiden in das Leben auf dem Lande, wie Jaroslav schildert:

„Wir wollten Landwirtschaft betreiben, daher besorgten wir uns ein paar Pferde. Mit ihnen beackerten wir ein kleines Feld und ritten auch durch die Umgebung. Für ein paar Kronen kauften wir zudem eine alte Kutsche. Darauf beziehen sich aber einige kuriose Begebenheiten. So stoppte mich zum Beispiel einmal eine Polizeistreife und bestrafte mich wegen Geschwindigkeitsüberschreitung. Ein anderes Mal musste ich blechen, weil ich als Reiter ein unbeleuchtetes Fahrzeug wäre. Oder ich ließ das Gartentor offen – und plötzlich kam ein Polizist in Zivil und bestrafte mich wegen Behinderung des Straßenverkehrs, obwohl dort damals nur ein paar Mal täglich ein Traktor vorbeifuhr. Heute klingen solche Geschichten so unglaublich, dass niemand sie verstehen kann.“

Zu schnell geritten – Polizei schikaniert die Chňapkos

Foto: Post Bellum
Das Ziel der StB war, durch diese Geldstrafen die Familie in den Ruin zu treiben und zur Emigration zu zwingen. Zum Vergleich: Das Nettogehalt in der landwirtschaftlichen Genossenschaft, in der beide Chňapkos arbeiteten, betrug damals etwa 1500 Kronen. Die Geldstrafen lagen aber zwischen 100 und 2000 Kronen. Die Familie war mehrmals auf Hilfe ihrer Freunde angewiesen, manchmal konnte sie sich auch eine Woche lang kein Essen kaufen. Die Genossenschaft ließ zudem die Wiese von Sylvia und Jaroslav aus „öffentlichem Interesse“ konfiszieren, deswegen mähten beide die Straßenränder und Gärten der Nachbarn, um Heu für die Pferde und die weiteren Tiere zu haben.

Silvestra Chnapková  (Foto: Post Bellum)
Dann begann Jaroslav mit seinen Freunden, einen Wassergraben zu reinigen, um ein kleines Wasserkraftwerk zu errichten. Da war für die kommunistischen Behörden das Ende der Fahnenstange erreicht: Sie bemühten einen Gerichtsprozess, um die Enteignung herbeizuführen. Das Urteil fiel im Oktober 1989, die Chňapkos bekamen zwei Monate Frist, ihr Haus zu räumen. Einen Monat später kam aber die Samtene Revolution. Damit sei für sie ein kleines Wunder geschehen, sagen die beiden Dissidenten. Die ehemalige Mühle besitzen sie übrigens bis heute. Sie haben dort eine kleine Pension eingerichtet und bieten auch Kurse im Töpfern und Korbflechten oder Seminare an.