Wissenschaft in Tschechien: Rentner im Plattenbau?
Wissen, so heißt es oft, ist der kostbarste Rohstoff der Informationsgesellschaft, das Lebensmark der Industriestaaten. An Forschung und Wissenschaft hängt die Zukunft, und das auch in Tschechien. Knapp einhundert Jahre ist es her, dass der berühmteste aller Wissenschaftler, Albert Einstein, an der Prager Karlsuniversität gelehrt hat. Wie steht es heute um Einsteins Enkel in Böhmen?
Für Albert Einstein war sein Prager Intermezzo in den Jahre 1911 und 1912 eine gute Zeit - wissenschaftlich außerordentlich fruchtbar, und daneben blieb ihm Muße für die geliebte Geige und das Leben inden Salons. Die sind inzwischen aus der Mode gekommen, und auch Geigenspiel und Einsteins charakteristische Elektro-Frisur sind an böhmischen Universitäten nur noch selten anzutreffen. Wie sieht ein Jahrhundert nach Einsteins böhmischen Jahren der typische tschechische Wissenschaftler aus? Stanislav Stepanek muss es wissen. Für den Wissenschaftspreis "Ceska hlava" (Tschechischer Kopf) durchforstet er alljährlich die Reihen der Forscher:
"Wenn ich hier quasi ein polizeiliches Fahndungsfoto entwerfen soll, dann würde ich mir einen Mann vorstellen -statistisch gibt es in der Wissenschaft mehr Männer -, der sich dem Rentenalter nähert, wenn er die Grenze nicht gar schon überschritten hat. Er fährt einen ganz alten, kleinen Skoda, wohnt im in einer Zweizimmerwohnung im Plattenbau, kauft sich Straßenbahn-Monatskarten und vergisst manchmal, wenn sie abgelaufen sind."
In einem Satz:Tschechische Wissenschaftler verdienen nicht viel, und sie sind überaltert. Nachwuchs ist schwierig zu finden: Es fehlen Karriereaussichten und Prestige. Idole, so meint Stepanek, werden auch in Tschechien anderswo gemacht. Obwohl sich Tschechien international mit seinen Leistungen nicht verstecken muss, sind Forschung und Wissenschaft für den tschechischen Durchschnittsbürger ein weites weißes Feld:
"Ich meine, dass die tschechische Öffentlichkeit einfach zu wenig über ihre Wissenschaftler weiß. Die Bedeutung misst sich in der Wissenschaft nach der Zahl der Zitate - wie oft also in führenden Fachzeitschriften auf die Arbeiten eines bestimmten Forschers Bezug genommen wird. Aber auch der beste tschechische Wissenschaftler kommt auf weniger Hinweise, als ein Star aus einer Reality Show oder ein Zweitliga-Fußballer. Das ist traurig, aber so ist es eben. Aber trotzdem haben wir eine Menge von Spitzenwissenschaftlern, zum Beispiel Professor Cizek, der auch für den Nobelpreis nominiert war und zu den bedeutendsten Köpfen in der Quantenchemie gehört, Professor Kohoutek, den man vielleicht eher von dem nach ihm benannten Planeten kennt, oder Professorin Sykova, die sich mit Stammzellenforschung beschäftigt und in ihrem Fach sicher zur Weltspitze gehört."
Solchen Leistungen mehr Prestige geben, ihnen öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung sichern - das will der Wissenschaftspreis "Ceska hlava" erreichen. Seit fünf Jahren wird er in mehreren Kategorien vergeben. Das Wort vom nationalen Nobelpreis hört Stanislav Stepanek noch nicht gerne, jedenfalls aber seinen es die prestigereichsten Preise, die in Tschechien im Bereich Wissenschaft und Technik vergeben werden.
Dass es schwierig ist, die Öffentlichkeit für die Arbeit an Universitäten und Forschungsinstituten zu interessieren, liegt aber nicht selten auch an den Wissenschaftlern selbst, meint Stepanek:
"Ich glaube die Leute hätten Interesse, wenn ihnen die Themen in geeigneter Weise präsentiert werden würden. Leider aber gibt es unter Wissenschaftlern nur schrecklich wenige, die über ihre Arbeit auch verständlich reden können. Wir haben zum Beispiel bei der Preisverleihung von ´Ceska hlava´ jeden Preisträger gebeten, für die Fernsehübertragung in 40 Sekunden zu sagen, worum es in seiner Arbeit geht. Nicht einmal ein einziger hat das geschafft - dreieinhalb Minuten waren die kürzeste Zeit, und selbst da habe ich noch nicht verstanden, wofür er den Preis eigentlich bekommen hat."
Offensichtlich muss man also früher ansetzen mit gezielter Förderung. Zum "Tschechischen Kopf" tritt deshalb das "Tschechische Köpfchen" - "Ceska hlavicka" für angehende Nachwuchsforscher. Vorsitzende der Auswahlkommission ist Stanislava Hronova, Prorektorin der Prager Wirtschaftsuniversität VSE:
"Der Wettbewerb ´Tschechisches Köpfchen´ richtet sich vor allem an Mittelschüler. Wir möchten gerade bei ihnen mit dem Wettbewerb das Interesse an Forschung und Wissenschaft fördern, damit sie sich an der Hochschule dann diesen Bereichen widmen."
Wissenschaft und Zukunft in Europa, das war auch das Thema einer internationalen Konferenz, die die Prager Wirtschaftsuni in dieser Woche gemeinsam mit dem Projekt "Ceska hlava" veranstaltet hat. Unter den Teilnehmern: Zwei Nobelpreisträger aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien, der tschechische Premier Mirek Topolanek, aber auch Spitzenvertreter großer Unternehmen, von L´Oreal bis Skoda Auto. Gerade die Brücke zur Wirtschaft zur schlagen, ist derzeit ein großes Anliegen der Universitäten, so Prorektorin Stanislava Hronova:
"In Tschechien und in Europa überhaupt haben wir ein großes Problem damit, private Finanzquellen für die Forschung zu erschließen. Das ist das, was uns im Vergleich zu den USA und Japan bremst. Dazu sollte unsere Konferenz beitragen - zu diskutieren, in welcher Weise sich Unternehmen an der Forschung beteiligen können, und in welcher Weise der Staat und EU die Rahmenbedingungen dafür schaffen können."Die Finanzen sind überhaupt die ständige Sorge an den tschechischen Universitäten und Forschungseinrichtungen. In Tschechien steht nur wenig Geld für Forschung und Wissenschaft zur Verfügung, meint Stanislav Stepanek. Wenigstens relativ wenig:
"Alles ist relativ, so ist das in der Wissenschaft nun mal. Wenn man es mit dem Niveau in anderen Ländern und den Regierungsversprechen vergleicht, dann ist es ziemlich wenig. Alle Regierungen nach der Wende haben mehr Geld versprochen. Bei uns gehen 1,52 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die Wissenschaft, davon 0,55 Prozent aus dem Staatshaushalt, der Rest aus privaten Quellen. Andere Industrieländer wenden meist mehr als zwei, zweieinhalb Prozent auf. So gesehen ist das also wenig - andererseits sind es aber 42 Milliarden Kronen, und das ist immerhin eine hübsche Summe. Man sollte natürlich schauen, ob genug Geld da ist, aber auch, was mit dem Geld gemacht wird, was Gesellschaft und Staat für das Geld bekommen."
Trotz aller Probleme: den Kopf in den Sand zu stecken und sich aus dem Wissenschaftsbetrieb zu verabschieden ist mit Sicherheit die schlechteste aller Lösungen, betont Prorektorin Hronova von der Prager Wirtschaftsuniversität:
"Ich meine, die Tendenzen, dass wir als kleines Land die Forschung lieber den Großen überlassen sollten, sind falsch. Ich will nicht sagen, dass wir überall die Besten sind, aber in einer Reihe von Fächern erreichen wir europäisches oder sogar Weltniveau. Und diese Bereiche müssen wir bestimmt fördern."
Damit irgendwann einmal wieder ein Einstein an einer tschechischen Universität lehrt. Und vielleicht nicht nur einer.