Zlín seinerzeit: Arbeiten und Leben in Tomáš Baťas Schuhstadt
Die ostmährische Stadt Zlín war jahrzehntelang von der Schuhproduktion geprägt. Innerhalb weniger Jahre machte der tschechoslowakische Unternehmer Tomáš Baťa die kleine Provinzstadt zum Firmensitz des größten Schuhherstellers der Welt. Wir haben bereits ausführlich über die einmalige funktionalistische Architektur in Zlín und die damit verbundenen Chancen und Probleme berichtet. Heute erfahren Sie, wie die Leute damals in der Fabriksstadt Zlín gelebt haben:
Die Soziologin Annett Steinführer vom Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung hat versucht, näheres über das Leben damals herauszufinden:
„Das Problem ist, dass wir über das Leben dieser gewöhnlichen Leute ungewöhnlich wenig wissen. Zlín wird immer als Stadt der Architektur dargestellt, als Stadt von Baťa. Aber hier sind Zehntausende von Neu-Zuzüglern in diese Stadt gekommen. Viele sind geblieben, viele mussten aber auch wieder gehen, aus verschiedenen Gründen.“
Die Baťa-Fabrik habe die ganze Stadt geprägt. Nicht nur, was die Architektur betrifft: Nahezu alle der Zehntausenden Baťa-Angestellten hatten die gleichen Arbeitszeiten:
„Das Werk war auf der einen Seite sehr dominant. Der Großteil der Zlíner hat dort gearbeitet. Da hatten wir eine extreme Regelmäßigkeit des Lebens: Alle gingen zur selben Zeit morgens in den Betrieb, alle hatten mittags zur selben Zeit ihre Pausen und belebten dann die umliegenden Freiflächen. Zumindest in der warmen Jahreszeit.“
Bis heute wird die Stadt Zlín durch ihre großen Freiflächen gekennzeichnet. Während auf dem Werksgelände die Fabrikhallen dicht an dicht stehen, ausgerichtet an einem strengen Raster, präsentiert sich der „Náměstí práce“ / „Platz der Arbeit“, der das ehemalige Werkstor von den Freizeiteinrichtungen wie dem Gesellschaftshaus, dem großen Kino und den beiden Kaufhäusern trennt, als große, nach heutigen Maßstäben fast zu große Fläche. Genutzt wird der reichlich vorhandene Freiraum wie in vielen anderen Städte heute auch: Als Parkplatz. Für ein kleines Stück Rasen und einige wenige Sitzbänke ist auch noch Platz geblieben. Der Durchgang zum Werksgelände ist seit den 1970er-Jahren unterbrochen: Das kommunistische Regime hat eine sechsspurige Straße durch das Zentrum gezogen, die Fußgänger wurden in eine Unterführung verbannt, die auch schon bessere Zeiten gesehen hat. Ein Stück weiter liegt der riesige Busbahnhof: Rund 70 Haltestellen zählt er, ein paar klapprige Busse der Marke Karosa und einige wenige neuere Modelle verlieren sich auf dem Areal. Für heutige Verhältnisse wirkt alles überdimensioniert. Doch betrachtet man Fotos aus der Zwischenkriegszeit, der Blütezeit der Baťa-Werke, wird schnell klar, warum hier mit dem öffentlichen Raum nicht gegeizt wurde: Es wimmelte geradezu vor Menschen, die von oder zur Arbeit strömen oder ihre Freizeit im Freien verbringen.
Doch Zlín hat auch noch ein anderes Gesicht, und dies trotz der umfangreichen Baumaßnahmen anlässlich der Erweiterung der Schuhproduktion in den 1920er- und 1930er-Jahren, wie Soziologin Steinführer erläutert:
„Man hatte eben auch das alte Zentrum mit den Kleingewerbetreibenden, mit den kleinen Läden. Also, das war mit Sicherheit eine lebendige Stadt. Sicher kann man aus einer architekturtheoretischen Perspektive darauf kommen, dass Zlín eine nicht urbane Stadt gewesen ist: Die strikte Funktionsteilung, der Versuch, soziale Unterschiede aufzuheben, sprechen dafür. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Menschen ihr ganz Eigenen daraus gemacht haben, und es gibt wunderschöne Fotografien aus dieser Zeit, die das auch beweisen. Die Menschen damals waren nicht nur ferngesteuerte Puppen, die hier willig das ausführten, was der größte Kapitalist des Landes ihnen vorschrieb. Natürlich haben sich die Leute auch ihre eigenen Freiräume geschaffen. Bei aller Disziplinierung, die natürlich auch in die Zeit gehört.“
Eine Sichtweise, die Františka Garlíková bestätigt. Die heute 88-Jährige kam im Jahr 1935 als Vierzehnjährige mit dem Fahrrad aus den Karpaten nach Zlín und begann eine Ausbildung in Baťas „Schule der Arbeit.“
„Während der Woche hatten wir natürlich nicht viel Zeit für Vergnügungen. Aber in den Pausen haben wir durchaus unsere Freizeit genossen und jede Menge Spaß gehabt. Und am Samstag sind wir dann alle zum Tanzen gegangen; wir haben uns beeilt, damit wir möglichst früh dort sind. Im Winter sind wir Skifahren gewesen. Das war damals alles andere als selbstverständlich. Sogar ein eigener Autobus ist ins Altvatergebirge gefahren, wo die Firma Baťa ein Skiareal hatte. Und im Sommer haben wir in den Teichen rund um Zlín gebadet. Wir hatten wirklich eine glückliche Jugend.“
Doch das Leben in Tomáš Baťas Zlín war nicht nur durch Tanz und Unterhaltung geprägt, ganz im Gegenteil: Der Schuhfabrikant verlangte von seinen Mitarbeitern vollen Einsatz, absolute Pünktlichkeit und Präzision. Das Leben der Baťa-Angestellten richtete sich nach strengen Regeln, wie Frau Garlíková erzählt.
„Um Punkt sieben Uhr morgens hatten alle beim Werkstor zu sein. Auch die höchsten Abteilungsleiter. Da gab es keine Ausnahmen; auch die Chefs konnten nicht kommen und gehen, wann sie wollten. Trödeln gab es nicht. Außerdem herrschte strenges Rauchverbot und auch Alkohol gab es keinen. In ganz Zlín! Um Alkohol zu kaufen, sind die Leute in die umliegenden Städte gefahren, etwa nach Přerov oder Luhačovice. Natürlich gab es da Leute, die sich diesen Regeln nicht unterwerfen wollten. Die mussten die Firma verlassen“
Waren Tomáš Baťa und sein Stiefbruder und Nachfolger an der Spitze der Firma Jan Antonín also Tyrannen? Haben sie ihre Mitarbeiter überwacht, verfolgt und unter Druck gesetzt? Die Soziologien Annett Steinführer hält diese Sichtweise für überzogen:
„Wenn man über die Arbeiter der Baťa-Werke spricht, dann gab es ein klares Regime. Das ist auch der Begriff, den die alten Baťa-Leute heute noch benutzen. Vielleicht verklären sie das auch, aber die meisten sagen rückblickend: Es war ein strenges Regime, aber es hat uns etwas gebracht. Es war ein großes Wohlstandversprechen. Deswegen kamen die Leute nach Zlín, um bei Baťa zu arbeiten. Viele kamen aus dem Umland und liefen selbst barfuss. Genau das, was Baťa also abstellen wollte: Er hatte ja stets versprochen, die Welt zu beschuhen. Die andere Seite dieser Medaille ist eben diese Disziplinierung und diese Disziplinierung und die Kontrolle. Dazu wird es immer geteilte Meinungen geben, das wird man auch nicht lösen können. Aber, was ganz wichtig ist: Man muss es in der Zeit sehen. Wir sind in einer Zeit von extremer sozialer Ungleichheit, in einer Zeit, wo Massenbewegungen linker wie rechter Art dazugehörten, die Zeit, wo der Faschismus in Europa groß wurde. Also ist auch Zlín ein Zeitphänomen.“Auch für die ehemalige Baťa-Angestellte Františka Garlíková bedeutete ihr Eintritt in das Schuh-Imperium einen enormen sozialen Aufstieg:
„Natürlich gab es böse Zungen – um nicht ein hässlicheres Wort zu verwenden – die uns als ‚Baťa-Gören’ oder als ‚Fabrik-Mädels’ verspottet haben. Aber wir waren reich: Dreimal soviel wie unsere Lehrerin haben wir verdient. Und das mit 16, 17 Jahren. Wir haben uns Krokoleder-Mäntel gekauft und schicke Schuhe, sind abends ausgegangen.“
Innerhalb des Betriebes herrschte eine strenge Hierarchie und jeder Mitarbeiter musste sich quasi hochdienen, erzählt Frau Garlíková: „Ich habe bei Baťa in der Buchhaltung gearbeitet. Aber anfangen musste ich in der Sockenfertigung. Nicht ganz ein Jahr habe ich dort verbracht. Jeder Baťa-Mitarbeiter musste in der Fabrik beginnen, auch die Abteilungsleiter. Als ich dann in die Buchhaltung kam, musste ich wieder ganz unten anfangen. In der Verkaufs-Verrechnung: Jede Woche wurden dort alle Umsätze abgerechnet. Bis heute begreife ich nicht, wie man damals wusste, wie viele Schuhe Baťa in Afrika verkauft hat. Stellen Sie sich vor, ganz ohne Computer! Jeden Mittwoch kamen die neuen Zahlen aus allen Teilen der Welt.“
Doch für die damaligen Verhältnisse bot die Firma Baťa ihren Mitarbeitern modernste Arbeitsbedingungen. In den Werkshallen standen die neuesten Maschinen, die den Arbeitern möglichst viele Handgriffe abnehmen sollten. Auch die Buchhalterinnen arbeiteten mit den besten Rechenmaschinen, erinnert sich Františka Garlíková. Und auch das Verhältnis zu ihren Vorgesetzten hat die ehemalige Baťa-Mitarbeiterin in guter Erinnerung:
„Im Jahr 1938 erkrankte meine Mutter schwer und brauchte meine Hilfe. Also habe ich den Entschluss gefasst, bei Baťa aufzuhören. Ich bin zu meinem Chef gegangen und habe ihm die Situation erklärt. Der Leiter der Buchhaltung sagte zu mir: ‚Fräulein, wir lassen unsere gut eingearbeiteten Mitarbeiter nur sehr ungern gehen. Nehmen Sie doch eine halbes Jahr Urlaub, ich veranlasse das. Fahren Sie zu ihrer Familie, und wenn alles geklärt ist, dann kommen Sie wieder.’ Da sehen Sie, wie entgegenkommend die damals bei Baťa waren.“
Zwar hat der Lauf der Geschichte mit der Besetzung Böhmen und Mährens durch die Nationalsozialisten und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs letztendlich eine Rückkehr von Františka Garlíková in die Baťa-Werke verhindert. Doch auch 70 Jahre später blickt die rüstige 88-Jährige immer noch gerne auf ihre Jugend als „Baťa-Mädel“ zurück. Bis heute reist die Pensionistin, die sei Jahrzehnten in Prag lebt, mehrmals pro Jahr nach Zlín, um ehemalige Kollegen zu treffen und in Vorträgen und Gesprächen über ihre Arbeit beim weltberühmten Schuhfabrikanten zur berichten.