Zum 150. Todestag der bedeutendsten tschechischen Schriftstellerin Božena Němcová
Die Schriftstellerin Božena Němcová ist die berühmteste Tschechin überhaupt. Schon Kinder kennen sie dank der zahlreichen Märchen, die sie gesammelt und literarisch aufgearbeitet hat. Ihr Hauptwerk „Die Großmutter“, in dem Němcová ein idyllisches und idealisiertes Bild ihrer Kindheit beschreibt, ist in Tschechien mittlerweile in etwa 350 Auflagen erschienen und wurde in fast 30 Sprachen übersetzt. Einen Eindruck von Němcovás Persönlichkeit erhält man beim Lesen ihrer umfangreichen Korrespondenz, die ebenfalls ihrem literarischen Werk zugeordnet wird. Die Autorin und herausragende Persönlichkeit der tschechischen Geschichte starb im Januar vor 150 Jahren.
"Lang, lang ist´s her, dass ich zum letzten Mal in dieses liebe, friedliche Antlitz geblickt, die bleichen, runzligen Wangen geküsst und in die blauen Augen geschaut habe, aus denen soviel Güte und Liebe strahlte; lang ist´s her, dass mich ihre alten Hände zum letzten Male segneten."
„Sie hat etwas unheimlich Großes geschaffen. Sie hat die tschechische Prosa auf Grundlage der gesprochenen Volkssprache begründet. Sie brachte die schöne tschechische Prosa näher an die gesprochene Sprache. Das schätzen und bewundern wir auch in der heutigen Literatur – es ist eine befreiende Sprache, die Sprache an sich, die Sprache als ein Lebensbedürfnis, was Božena Němcová geschaffen hat. Das war ihre große Leistung.“
Eigentlich kam Božena Němcová mittels der deutschen Bücher zum ersten Mal mit Literatur in Kontakt. Sie wuchs in Ostböhmen auf, in der Familie des Herrenkutschers Johann Pankel, in der deutsch gesprochen wurde. Als sie fünf Jahre alt war, kam zur Betreuung der Kinder die tschechischsprachige Großmutter ins Haus, die später als “Babička” in die Weltliteratur eingehen sollte. Im Alter von 17 Jahren heiratete Božena Němcová, damals noch Barbora Pankel, den tschechischen Finanzbeamten Josef Němec, dessen Patriotismus eine große Rolle bei der Prägung ihres nationalen Bewusstseins spielte. 1842 kam sie mit ihm nach Prag. Dort lernte sie die tschechischen Patrioten kennen.„Es war eine sehr kleine Welt. Noch kleiner war die Welt der Leute, die bereit und fähig waren, sich an der Kultur der nationalen Wiedergeburt zu beteiligen, das heißt tschechische Zeitungen und Bücher zu lesen. Es herrschte eine Reihe von gesellschaftlichen Vorurteilen, die die tschechische bürgerliche Welt mit dem deutschen Milieu teilte. Němcová schreibt in der Zeit um 1852 häufig über den Patriotenpöbel: Sie sagen, sie wären Patrioten, dabei seien sie aber Lügner, Verleumder und Leute ohne freiheitliches Denken.“Zum Zwiespalt mit der patriotischen Gesellschaft kam es allerdings erst beim späteren Aufenthalt Němcovás in Prag. In den 40er Jahren traf sie alle führenden Repräsentanten der tschechischen Kulturszene. In dieser Zeit begann sie zu schreiben, und man erkannte schnell ihr außerordentliches literarisches Talent. Wie gut beherrschte sie zu dieser Zeit die tschechische Sprache? Dazu Jaroslava Janáčková:
„Besser, als etwa Karel Havlíček Borovský. Er gab selbst zu, dass er, obwohl er aus einem rein tschechischen Milieu stammte, während des Studiums Tschechisch nach und nach vergessen hat. Er hat das nachgeholt durch die Lektüre des tschechisch-deutschen Wörterbuchs von Josef Jungmann. In der Familie Pankel wurde zwar deutsch gesprochen, Němcová war aber größtenteils vom tschechischen Milieu umgeben. Sie besuchte als Mädchen eine tschechische Schule in Česká Skalice. Darüber hinaus war sie ein Sprachtalent. Wir wissen, dass sie während ihrer Aufenthalte in der Slowakei sehr schnell Slowakisch mitbekommen und sich angeeignet hat.“
In der Slowakei, aber auch im westböhmischen Chodenland und in anderen Regionen Böhmens widmete sie sich mit großem Eifer dem Sammeln von Volksdichtung und interessierte sich sehr für den Lebensalltag des Volkes. Das gesammelte Material veröffentlichte sie in ihren Märchensammlungen, als Autorin ethnographischer Skizzen sowie Erzählungen.
Wegen ihrer patriotischen Aktivitäten wurden Němcová und ihr Mann von der Polizei verfolgt. Němec wurde oft versetzt und vorzeitig pensioniert. Ihre Situation verschlechterte sich besonders nach der gescheiterten Revolution von 1848. Němcová lebte seit 1851 allein mit ihren Kindern in großer Armut und war auf geringe Literaturhonorare sowie Unterstützung von Freunden angewiesen. Wie die Situation von Schriftstellern in Böhmen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgesehen hat, dazu Jaroslava Janáčková:
„Sich mit Schreiben Lebensunterhalt zu verdienen ist für einen tschechischen Schriftsteller zu jeder Zeit schwierig gewesen. Historikern zufolge ist erst mit der Entwicklung des Hörfunks und weiterer Medien im 20. Jahrhundert die Möglichkeit entstanden, als freiberuflicher Schriftsteller gewissermaßen zu leben. Němcovás jüngerer Zeitgenosse Jan Neruda war freiberuflich tätig. Aber er lebte allein und arbeitete wie ein Sklave für die Zeitung Národní listy, anders ging es nicht. Er hatte seine feste Quote, die er erfüllen musste. Němcová lebte einige Jahre davor. Noch kurz vor ihr bezahlte man die Schriftsteller nicht nur in Böhmen in Naturalien: Man hat seine eigenen Bücher bekommen und man konnte Bücher anderer Autoren beim Verleger auswählen, oder der Verleger hat dem Autor irgendwo einen Aufenthalt bezahlt. Sie begann dann das durchzusetzen, was in Westeuropa bereits üblich war, nämlich dass der Schriftsteller ein festes Honorar erhält und das die Höhe des Honorars von dem Erfolg des Werkes abhängt.“
Den größten Erfolg brachten ihre „Bilder aus dem Provinzleben“, das prosaische Werk Babička (Die Großmutter). Es erschien zum ersten Mal in vier Heften im Jahr 1855.„Was ´Die Großmutter´ betrifft, ist es meiner Meinung nach Glück, dass sie keinen Vertrag hatte. Sie hat das Werk in mehreren Phasen geschrieben und das Buch nach und nach vertieft und verbessert. Das Buch entstand schrittweise, so wie man bei einem Kuchenteig Stück für Stück die Zutaten hinzgibt.“
Nach „Die Großmutter“ folgten zwei bis drei Jahre der intensiven literarischen Arbeit. Das Ende der 50er Jahre eröffnete neue Möglichkeiten für das Publizieren, doch der Autorin fehlte es bereits an Kraft um zu schreiben. Eine schwere Krankheit hat die letzten Lebensjahre Božena Němcovás geprägt. Ihre Ehe lag damals in Trümmern. Die bürgerliche Gesellschaft distanzierte sich von ihr wegen ihrer Liebesaffären. Die Spenden, die früher für die Schriftstellerin organisiert wurden, wurden abgebrochen.
„Sie war dermaßen stolz und überzeugt, dass sie als kreativer und ehrenhafter Mensch, einer schweren Prüfungen ausgesetzt wurde: ihr Gatte Josef musste in der Ferne leben, sie musste immer sparen, um die Kinder durchzubringen. Doch sie war so überzeugt von sich, dass sie alle Vorurteile gegen sie als feindliche Gesten wahrnahm.“Die Situation hat sich mit ihrem Tod grundsätzlich verändert. Schon ihr Begräbnis im Januar 1862 wurde zum Großereignis, das von den Patrioten organisiert wurde. Nach dem Tod wurde Němcová großer Ruhm zuteil und sie wurde zu einer Symbolfigur der tschechischen Geschichte. Die Literaturhistorikerin Jaroslava Janáčková:
„Die Gesellschaft brauchte große Kulturpersönlichkeiten mit denen sie sich identifizieren konnte. Und diese Persönlichkeit, Božena Němcová, war darüber hinaus eine Frau. Das war in Europa einzigartig. In Europa gab es George Sand, aber sie war eine wohlhabende Dame aus der großen Welt. Und dieses kleine arme tschechische Volk, das sich gerade erst aufgerappelt hatte, hatte eine Frau. Die Historiker haben heute festgestellt, dass die Tschechen die einzige Kultur in Europa sind, in der die Emanzipation der Frauen mit Hilfe der Männer erreicht wurde. Die Männer sahen in den Frauen Unterstützerinnen bei der Durchsetzung der nationalen und später auch der sozialen Interessen. Die tschechische Gesellschaft hat schon damals erkannt, dass diese erste Frau, diese erste tschechische Schriftstellerin eine große und herausragende Persönlichkeit war.“
Dieser Beitrag wurde am 21. Januar 2012 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.