Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes werden an der Ecke des Rundfunkgebäudes Zivilisten erschossen
Die Geschichte ereignet sich immer zweimal, sagt ein kluges Wort: Einmal als Tragödie, und einmal als Farce. Letzteres gelegentlich sogar mit Nachhilfe der Historiker. Und das gilt auch für Ereignisse, von denen ein jeder froh sein sollte, dass sie die Historie von sich aus vorläufig nur einmal auf ihren Plan genommen hat. Ein Radiofeuilleton von Thomas Kirschner.
In wenigen Tagen jährt sich zum sechzigsten Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs. Für Prag und die Tschechische Republik haben die letzten Kriegstage eine besondere Bedeutung. Während Europa von Westen wie von Osten aus Kilometer um Kilometer von der NS-Herrschaft befreit wurde, lag Böhmen genau in der Mitte - hier blieb die Macht bis zur endgültigen Kapitulation der Wehrmacht großteils in den Händen der deutschen Besatzer. In einem mutigen Akt haben sich tschechische Bürger in Prag und anderswo in den letzten Kriegstagen gegen die deutsche Okkupationsarmee erhoben, um selbst noch zu der Befreiung ihres Landes beizutragen. Im Mittelpunkt des Aufstandes, der einen hohen Blutzoll forderte, stand in Prag der Kampf um das Rundfunkgebäude. Vom 5. bis zum 8. Mai wurde hier geschossen; sogar noch nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Die Prager haben "ihren" Rundfunk aus den Händen von SS-Einheiten erobert und entschlossen verteidigt. Zu Recht gehört dieses Kapitel zu den stolzen in der tschechischen Geschichte, und zu Recht werden in jedem Jahr die Opfer dieses Kampfes geehrt. Zum 60. Jahrestag möchte man es aber nicht bei der stillen Kranzniederlegung belassen. Zusätzlich wird das Gefecht an zwei Tagen nachgestellt. Mit einem alten Panzer, Soldaten in historischen Uniformen, zeitgenössischen Fahrzeugen, jeder Menge Platzpatronen - und fast echten Toten. "An der Ecke des Rundfunkgebäudes werden Zivilisten erschossen", heißt es in der Programmankündigung. Ein angreifendes Fahrzeug wird mit einer Panzerfaust vernichtet. Alles bestens zu sehen von der gegenüberliegenden Tribüne. Geschichte als Farce, der Schrecken der letzten Kriegstage als heroisch-pathetisches Kostümtheater. Selbst das könnte man hinnehmen, wenn nicht gerade einmal sechs Jahrzehnte vergangen wären, seit an diesem Ort in Echt gestorben wurde.