Zwischen Mythos und Museum - Václav Havel und seine Bibliothek
Der brave Soldat Švejk hat sein Gedenkzimmer in Prag, ebenso wie Antonín Dvořák und Bedřich Smetana, wie der Pädagoge Jan Amos Komenský und das fiktive böhmische Universalgenie Jara Cimrman. Nun ist im Kreis der Erinnerungsstätten für nationale Mythen eine weitere fühlbare Lücke geschlossen worden. „Václav Havel - ein tschechischer Mythos“, lautet passend der Titel einer Ausstellung, die in der vergangen Woche eröffnet wurde und die den tschechischen Alt-Präsidenten als Schriftsteller und Dissidenten, als Politiker und als Mensch vorstellen will.
„Die Ausstellung ist ein Experiment, so etwas wie ein Lockangebot, ein Versuchsballon. Es ist eine provisorische, vorläufige Ausstellung, die darauf aufmerksam machen soll, dass hier eine Institution namens Václav-Havel-Bibliothek entstehen soll. Die ist angeregt durch die amerikanischen Präsidenten-Bibliotheken – eine Idee, die nun erstmals außerhalb der Staaten aufgegriffen wird. Es geht dabei nicht in erster Linie um meine Person, sondern eher um das letzte halbe Jahrhundert in diesem Land.“
Gegründet wurde die Václav Havel Bibliothek bereits vor drei Jahren; die Ausstellung ist nun das erste, weithin sichtbare Ergebnis der Arbeit. Geplant ist aber weitaus mehr, erläutert als Mitbegründer der Sozialwissenschaftler Miloslav Petrusek.„Als Masaryk aus dem Präsidentenamt ausgeschieden ist, tat er das mit den Worten: ´Von mir bleibt nicht bestehen als Bücher und meine wissenschaftliche Arbeit.´ Václav Havel hat sich für diese Gesellschaft intellektuell mit ganzer Kraft eingesetzt, und alles das, was er uns gewidmet hat an Gedanken, Texten, Skizzen, das soll hier in der Václav-Havel-Bibliothek archiviert werden.“
Entstehen soll ein Forschungs- und Begegnungszentrum - eine Bibliothek und ein Archiv, das über das Werk und das Wirken Václav Havels eine ganze Epoche der tschechischen und europäischen Geschichte mit erschließen will; von der kulturellen Avantgarde der sechziger Jahre bis zum Übergang der tschechischen Gesellschaft in eine pluralistische Demokratie, an der Havel in den neunziger Jahren maßgeblich beteiligt war. Zugleich soll die Bibliothek Raum für Debatten und Diskussionen geben und so einen Beitrag zur Ausbildung eines kollektiven Gedächtnisses leisten. Denn eine Gesellschaft, die ihre Erinnerung verliert, verliert auch ihre Identität, unterstreicht Petrusek:
„Einer meiner Dozenten-Kollegen hat mich darauf hingewiesen, dass die Studenten die Vergangenheit nicht interessiert und dass schon der 17. November 1989, das Datum der Revolution, ihnen überhaupt nicht mehr sagt. Wenn das wirklich so ist, dann wird die Václav Havel Bibliothek dagegen sehr engagiert angehen.“An Büchern für die Bibliotheksregale fehlt es dem homo literatus Václav Havel wahrlich nicht. Bis die Bibliothek in allen Bereichen ihre Arbeit aufnehmen kann, wird es aber dennoch noch ein weiter Weg sein. Bis dahin soll die nun eröffnete kleine Ausstellung das internationale Interesse an einem Václav Havel Zentrum austesten. Mit hunderten Exponaten aus Amtszeit und Privatarchiv bietet sie einen Einblick sowohl in Havels Salon wie auch in die staubigen Kisten vom Dachboden. An der Zusammenstellung maßgeblich mit beteiligt war Havels Ehefrau, die Schauspielerin Dagmar Havlová:
„Die Exponate haben wir lange zusammensuchen müssen – zum Teil waren sie im Wochenendhaus in Hradeček, zum Teil in unserer Wohnung; viele Dinge waren auch noch in den Kisten, in die sie beim Auszug aus der Präsidialkanzlei verpackt worden sind. Es war nicht leicht, da das auszuwählen, was für eine breite Öffentlichkeit am interessantesten ist.“
Zu sehen gibt es etwa Typoskripte aus dem Samisdat und Kassiber aus der Gefängniszeit. Der Besucher kann den Schreibtisch aus Havels Präsidialkanzlei bewundern, in zahlreichen Urkunden und EhrentitelN stöbern oder - wenn auch nur als Fototapete - einen Blick in Havels privates Arbeitszimmer werfen. Ausstellungsmanagerin Radka Neumannová hat es jedoch ein anderer Teil am meisten angetan:„Für mich persönlich ist die größte ´Sensation´, wenn ich das so sagen kann, die Zeit der Kindheit. Hier können die Besucher Kinderzeichnungen von Václav Havel sehen oder Briefe, die er als kleiner Junge in der Nachkriegszeit an seinem Vater geschrieben hat.“
Der aufmerksame Besucher kann hier sogar sehen, wie sich der achtjährige Václav 1945 auf seine Weise am Prager Aufstand beteiligt hat. Eine Kinderzeichnung zeigt es. Keine Straßenkämpfe, keine Schlachtenszenen sind zu sehen, sondern ein schlichter, zwiegeschweifter böhmischer Löwe, akkurat platziert auf einem rotes Wappenschild, mit Datum vom 5. Mai 1945, dem Beginn der Kämpfe in Prag.
Die Ausstellung gestaltete Bořek Šípek, der Leibarchitekt Václav Havels. Mit seinen nicht unumstrittenen Entwürfen zwischen gelöstem Neoklassizismus und postmodernem Barbie-Barock hatte Šípek schon für Havel im Präsidententrakt der Burg den Muff des Sozialismus durch die Farben der neuen Zeit ersetzt. Der Hauptraum der Ausstellung wirkt nun, als schlendere man durch einen gemütlichen Flur in Havels Privatwohnung:
„Das ist ja kein Mausoleum, sondern eine Ausstellung über einen lebendigen Menschen, der auch daran Anteil nehmen kann. Wir haben uns bemüht, es so wirken zu lassen, als ob Havel hier jeden Tag vorbeikommt und die Dinge neu ordnet.“
Untergebracht ist die Ausstellung in einem Nebengebäude der historischen Herget-Ziegelei auf der Prager Kleinseite, gleich neben der Karlsbrücke - in unmittelbarer Nachbarschaft des Franz-Kafka-Museums, übrigens… Mythos neben Mythos, sozusagen. Und auch wenn der Titel der Ausstellung „Václav Havel - ein tschechischer Mythos“ nur augenzwinkernd gemeint sein soll - es ist tatsächlich gerade der Mythos, der an Havel nagt und ihm eine Verpflichtung nach der anderen aufdrängt. Muße für eigenes bleibt da kaum:
„Viel Zeit habe ich leider nicht. Ich bin hier wirklich von zahlreichen Dingen in Anspruch genommen. Etwas zu Schreiben, das gelingt mir meistens nur im Ausland, wenn ich mich irgendwohin zurückziehe und dort mehr Zeit und Konzentration finde. Und allmählich bin ich wieder reif für so eine Flucht irgendwohin.“
Viel Aussicht besteht also nicht, dass der Altpräsident, jetzt, da ihm ein Museum gewidmet ist, auch wie ein Museumsstück behandelt wird.