40 Jahre Prager Frühling: „1968: Lachen und Vergessen“

Arnošt Lustig (Foto: ČTK)

Persönliche Erinnerungen an das Jahr 1968, das vieles nicht nur in der damaligen Tschechoslowakei, aber auch anderswo in Europa und in der Welt beeinflusst hat, bildeten die gemeinsame Plattform für das Prager Schriftstellerfestival 2008. Sein 18. Jahrgang, der in der vergangenen Woche stattfand, stand unter dem Motto“1968: Lachen und Vergessen.“

August 1968 in Prag
Eine ganze Reihe von Schrifstellerinnen und Schriftstellern mit klangvollen Namen gab sich diesmal ein Stelldichein in Prag, um über die tschechoslowakische Reformbewegung von 1968 zu diskutieren, bekannt unter dem Begriff „Prager Frühling“. Hier zunächst einige Namen: Margaret Atwood, eine der weltweit bekanntesten Schriftstellerinnen der Gegenwart, Kanada. Michael McClure, einer der letzten noch lebenden Repräsentanten der so genannten Beatgeneration, USA. Aus den USA kam auch der erfolgreiche Schriftsteller und Drehbuchautor Paul Auster. Über den Protest russischer Intellektueller gegen die sowjetische Okkupation der Tschechoslowakei erzählten in Prag die Dichterin Elena Schwarz und die direkte und letzte noch lebende Teilnehmerin an der Protestaktion auf dem Moskauer Roten Platz, Natalija Gorbanjewska.

Über den „Prager Frühling“ diskutierten auch tschechische Schriftsteller, die zu den bekanntesten exponierten Persönlichkeiten jemer Zeit gehörten.

Natalija Gorbanjewska  (Foto: ČTK)
„Der Prager Frühling war doch erfolgreich. Es ist nicht wichtig, wie alles letztendlich ausgegangen war. Wichtig ist der Einfluss, den das Geschehen in Prag auf Europa hatte,“

sagt der 82-jährige Ludvík Vaculík, Prosaiker, Feuilletonist, Autor und führender Sprecher der Reformbewegung und des Manifestes „2000 Worte“. Als Repräsentant der kulturellen und politischen Opposition wurde er in den 70er und 80er Jahren verfolgt.

„Zum einen diskreditierte der Prager Frühling absolut das sowjetische Modell des Sozialismus. Zum anderen war es eine Inspiration für Gorbatschow, der später noch einmal versuchte, den Kommunismus zu reformieren.“

Ivan Klíma, Jahrgang 1931. 1967 warf er dem Regime auf dem Prager Schriftstellerkongress Machtmissbrauch vor und wurde aus der Partei ausgeschlossen. Nach der sowjetischen Okkupation der Tschechoslowakei ging er in die Emigration in die USA, kehrte aber drei Jahre später zurück. Wegen Publikationsverbots musste er seine Romane im Ausland publizieren.

„Prager Frühling war eine wunderbare Wandlung von der großen Enttäuschung zur größten Hoffnung.“

Arnošt Lustig, 82 Jahre, wurde genauso wie Klíma 1942 in das Ghetto in Theresienstadt geschickt, litt aber später auch in den KZs Buchenwald und Ausschwitz. Der Großteil seiner Werke befasst sich mit dem Leben der Juden während des Zweiten Weltkrieges und dem Holocaust. Seit 1970 lebt er in den USA.

Ivan Klíma
„Für mich war es keine Reform des Sozialismus. Warum sollte man etwas reformieren, was ohnehin keine Form hatte,“

meint mit der für ihn typischen Ironie Dichter, Prosaiker und Diplomat Jiří Gruša. Als Unterzeichner der Charta 77 und als Autor des provokanten Romans „Fragebogen“ (Dotazník) wird er wegen „Angriffs auf das gesellschaftliche System“ verfolgt und inhaftiert. 1978 geht er in die Emigration nach Deutschland.

„Der Prager Frühling ist die Spitze eines Eisbergs gewesen, der am 21. August 1968 versenkt wurde,“

sagt der 84-jährige Antonín Liehm, Publizist, Cineast und Herausgeber der „Lettre International“ in Paris. Im Unterschied zu seinen Kollegen sagt er:

„Für mich bedeutet der Prager Frühling ein Ende des Reformprozesses und nicht seinen Beginn. Der Prager Frühling beginnt für mich mit der so genannten Tauwetterperiode, zu der 1958 ein Signal aus Moskau gegeben wurde. Sie hat zehn Jahre gedauert.“

Diesen Zeitraum verbindet Antonín Liehm mit einer, wie er wörtlich sagt, „Explosion von drei Generationen tschechischer Filmemacher“, die zum ersten Mal im Leben für staatliches Geld im Prinzip das machen konnten, was sie wollten, wenn auch natürlich nicht absolut. Plötzlich seien rund zwei Dutzend Filmregisseure da gewesen, die die ganze Welt kannte und die zahlreiche Filmpreise ernteten. Einen der ausschlaggebenden Impulse für den Kulturboom hierzulande sieht Liehm im folgenden Ereignis:

„1958 stellt das tschechische Establishment fest, dass die Entwicklung eine unerwünschte Richtung einschlägt und dass man etwas dagegen unternehmen muss. Damals hat man aber einen Fehler begangen. In Brüssel wurde die Weltausstellung vorbereitet und die Kommunisten schickten zahlreiche Künstler dorthin mit dem Auftrag, den tschechoslowakischen Pavillon zu gestalten. In der Absicht nämlich, sie für eine Zeitlang loszuwerden. Das waren Leute, die in permanenter Ungnade des Regimes standen, wie zum Beispiel Film- und Theaterregisseur Alfréd Radok, sein Bruder Emil Radok, (beide Mitbegründer des Prager Experimentaltheaters ´Laterna magica´im Jahr 1956, Anm.d.Red.). Mit dabei waren auch Miloš Forman und viele viele andere. In Brüssel durften zum Beispiel auch Maler ihre abstrakten Werke ausstellen, die sie ansonsten hierzulande nicht malen und zeigen durften. Und siehe da, dem tschechischem Pavillon wurde die Goldmedaille der EXPO ´58 verliehen. Diesen Erfolg konnte man hierzulande nicht verheimlichen.“

In der Tat, entsprechend dem Lied „ Willkommen in Absurdistan“ war die Stellung der Kultur in der damaligen Tschechoslowakei auch absurd. Antonín Liehm:

„Wenn ein politisches System, in diesem Fall meine ich das sowjetische System, die Kultur in ein Schlachtfeld verwandelt, dann wird jeder – wie es damals hieß - ´Kulturschaffende´ zur Kampfwaffe. Damit wird die Kultur zu einem bedeutenden Träger politisch gesellschaftlicher Aufgaben, die sie zugunsten des Systems zu erfüllen hat.“

Die Schriftstellerrunde versuchte noch weitere Antworten auf die gestellte Frage nach den Gründen der erwähnten „Kulturexplosion“ zu geben. Ludvík Vaculík hat seine Antwort wie üblich kurz gefasst:

Arnošt Lustig  (Foto: ČTK)
„Die Kultur hatte plötzlich einen Gegner, gegen den sie sich stellen konnte und auch wollte,“

Arnošt Lustig hatte eine beinahe philosophische Erklärung parat:

„Die Tschechen sind eine kleine Nation, die zunächst tausend Jahre lang mit einem ´Monster´, und dann taucht ein anderes Monster auf, von dem man es nicht erwartet hat, sich als Monster zu entpuppen, und das war die Sowjetunion. Daher braucht sie Rettungsringe und einer davon ist die Kultur.“

Ivan Klíma sieht hinter der kulturellen Entwicklung der 60-er Jahre ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren:

„In ihre besten Jahre waren damals Angehörige der Generation gekommen, die ihre Kindheit oder Jugendzeit im Krieg erlebten. Und das Kriegserlebnis hat sie geprägt, denn jeder Krieg erweist sich als Inspirationsquelle für die Kunst. Nach dem Ersten Weltkrieg war es genauso. Außerdem war es eine Kultur im totalitären Regime. Auch in den 60-er Jahren war es so. Die einzige bis zum bestimmten Grad freie Stimme, die es zu hören gab, war die Stimme der Kunst. Und noch etwas: Nach 1956 haben enorm viele Menschen eine Enttäuschung erlebt, nach dem sich die wahre Substanz des Kommunismus gezeigt hatte mit der Bekanntgabe der Existenz der sowjetischen Gulags und der vielen Opfer. Diese Enttäuschung sickerte dann nach und nach durch die gesamte kommunistische Partei bis in ihre Spitze. Die etwas später eingetretene Tauwetterperiode hat der Kultur den Weg freigemacht.“