Kurzer Rausch der Freiheit – die Zivilgesellschaft im Prager Frühling 1968

Prague in 1968

Die einen setzen sich für Tierschutz ein, andere kämpfen wiederum für den Bau der US-amerikanischen Radaranlage in Mittelböhmen und weitere für die Wiedereinführung der Monarchie. Auch in Tschechien haben sich nach 1989 Bürger zu allen möglichen Interessenvereinigungen zusammengeschlossen. Fast 40 Jahre lang gab es davor diese Möglichkeit nicht. Aber eben nur fast, denn im Jahr 1968 kam es mit dem Prager Frühling zu einer kurzen Episode der Freiheit zwischen Stalinismus und der so genannten Normalisierung. Es war ein kurzer Rausch.

„Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der Sozialismus in der Tschechoslowakei ein solches Maß an Freiheiten schaffen kann, wie es nicht einmal in den allerdemokratischsten bourgeoisen Gesellschaften zu finden ist.“

Das war die Vision von Parteichef Alexander Dubček, und so stellte er sie im April 1968 einmal mehr seinen Genossen vor. Die kommunistische Partei des Landes war tief gespalten in stalinistische Hardliner und die Reformer um Dubček. Draußen auf den Straßen ging es bereits anders zu, wie sich der Schriftsteller Ivan Klima jüngst erinnerte.

„Im März wurde die Zensur aufgehoben und im Grunde konnten wir dann alles schreiben, was wir wollten. Und es wurden Sachen geschrieben, die für die Zeit und für das Regime ziemlich unglaublich waren.“

Zum Beispiel wurde offen über die Korruption im Staatsapparat berichtet. Zudem wurde begonnen, die stalinistische Vergangenheit aufzuarbeiten. Für Dutzende von Funktionären aus Staat und Partei endete diese neue Offenheit jedoch bitter: Sie nahmen sich aus Angst vor den Folgen der Enthüllungen das Leben, wie zum Beispiel der Vorsitzende des Obersten Gerichts, Jozef Brešťanský. Eine Tageszeitung aus Bratislava hatte veröffentlicht, dass Brešťanský in den 50er Jahren politische Schauprozesse geführt hatte und später die Rehabilitation der Verurteilten verhinderte. Der Richter erhängte sich Ende März 68 in einem Wald bei Prag.

Die große Masse hingegen, die zuvor zwei Jahrzehnte lang hatte schweigen musste, feierte:

„Es gab eine Euphorie der großen persönlichen Freiheiten. Man konnte reisen, bekam sofort einen Pass und wenn man das Geld hatte, konnte man unmittelbar losfahren. Es wurden große Demonstrationen veranstaltet. Die Staatssicherheit hatte ihren Schrecken verloren. Das heißt, man lebte frei. Man konnte eigene Vereine bilden, man konnte sich artikulieren in der Presse. Das war der große Rausch der Freiheit, dem man da begegnet ist.“

Ivan Klíma
So erinnert sich der Berliner Journalist Hans-Jürgen Fink an den Prager Frühling. Fink lebte ab Herbst 1967 bis Sommer 1968, also für mehrere Monate in Prag und bekam den Wandel hautnah mit.

Den Wandel voran trieben vor allem die Schriftsteller wie Ivan Klima oder Ludvík Vaculík, der Ende Juni dann das berühmte Manifest der 2000 Worte schrieb. Und die Literaturzeitschrift „Literární noviny“ wurde zum Sprachrohr des Prager Frühlings.

„Wir waren so eine Art gesellschaftspolitisches Wochenblatt der Opposition, weil es damals keine legale Opposition gab. Und der Schriftstellerverband gab den oppositionellen Meinungen ein Forum.“

Die Literární noviny schwang sich zu einem Massenblatt auf. Bei einer Auflage von mehr als einer Viertel Million erreichte die Zeitschrift rund eine Million Leser im Land. Der Aufschwung betraf aber auch viele andere Zeitungen, ab März 1968 rissen sich die Leute an den Kiosken fast um sie. Oder sie klebten mit dem Ohr an den Rundfunkgeräten. So stieg der Anteil der regelmäßigen Radiohörer unter den Tschechoslowaken während des Prager Frühlings von 43 Prozent auf sage und schreibe 80 Prozent.

„Zeiten, die sich ändern“ – nicht zufällig vertonte damals das Trio „Golden Kids“ den Bob-Dylan-Song „Times They Are A-Changing“. Denn die Zeiten waren anders. In ihrem Freiheitsrausch nahmen sich die Menschen einfach, was sie für richtig hielten, so zum Beispiel die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Der Reformflügel der Kommunistischen Partei hatte das Zentralkomitee im März 1968 dazu gedrängt, ein so genanntes Aktionsprogramm zu verabschieden. In diesem wurden unter anderem die bürgerlichen Freiheiten als Ziel genannt. Die zugehörigen Gesetze konnten aber bis auf eine Ausnahme nie verabschiedet werden, die Panzer der Warschauer-Pakt-Truppen waren schneller. Die Ausnahme war das Gesetz über die Pressefreiheit, das rund zehn Tage bestand. Aber auch ohne gesetzliche Grundlage kamen die Menschen spontan auf den Straßen zusammen oder bildeten neue Vereine. Das ganze bürgerliche Leben wurde erneuert, Jugendorganisationen wie die Pfadfinder oder Berufsverbände entstanden und auch eine politische Organisation: der „Klub angažovaných nestraníků“, auf Deutsch: Klub engagierter Parteiloser, abgekürzt KAN. Dieser nicht-kommunistische Zusammenschluss wurde im April gegründet.

„Mitglieder des KAN konnten Leute werden, die nicht in eine politische Partei eintreten, aber sich politisch engagieren wollten. In sich war das natürlich ein Widerspruch. Von Anfang an wies der KAN Attribute einer politischen Partei auf, zugleich verkündeten seine Sprecher, dass man eigentlich keine politische Tätigkeit aufnehmen wolle. Man wolle nur Anregungen und Anmerkungen machen, über politische Probleme diskutieren, aber die Mitglieder konnten sogar in Selbstbestimmungsorgane gewählt werden“, sagt der Historiker Jiří Hoppe vom zeitgeschichtlichen Institut der tschechischen Akademie der Wissenschaften.

Den Klub engagierter Parteiloser mussten natürlich diejenigen in der Kommunistischen Partei als Kampfansage empfinden, die weiter auf ihren Alleinvertretungsanspruch pochten. Es waren die Rückwärtsgewandten. Und sie waren weiterhin in der Mehrheit. Deswegen schrieb Ludvík Vaculík seine 2000 Worte, es war ein Aufruf an die tschechoslowakische Bevölkerung, die Reformkräfte in der Partei zu unterstützen:

„Mit dem Frühling dieses Jahres ist wie nach dem Krieg eine große Gelegenheit zurückgekehrt. Wir haben erneut die Möglichkeit, unsere Sache, die den Arbeitstitel Sozialismus trägt, in die eigenen Hände zu nehmen und ihr ein Gesicht zu geben, das besser unserem einst guten Ruf entspricht und der guten Meinung, die wir ursprünglich von uns selbst hatten. Das Frühjahr geht gerade zu Ende und wird nicht zurückkehren. Im Winter werden wir alles erfahren.“

August 1968
Vaculík mahnte in seinen 2000 Worten, dass der Prager Frühling bedroht ist. Damals war bereits klar, dass sich auch die außenpolitische Lage zuspitzte. Die Tschechoslowakei fand keine Verbündete innerhalb des Ostblocks. Nach einem Manöver Anfang Juli 1968 blieben die Warschauer-Pakt-Truppen länger als geplant im Land. Ivan Klima schrieb einen Artikel, in dem er forderte, dass sich die Tschechoslowakei dagegen wehren sollte. Doch der Chefredakteur der Literární noviny bekam kalte Füße.

„Ich wurde zum Zentralausschuss der Partei gebracht“, erinnerte sich Klima. „Dort waren bereits anständige Leute, die sogar an unsere Zeitschrift schrieben. Sie brachten eine große Karte der Tschechoslowakei, wiesen auf die Grenzen und sagten: `Schau, hier ist die Sowjetunion, dort Polen, dort die Deutsche Demokratische Republik und hier Ungarn - und du willst wirklich kämpfen?´ Da haben wir den Artikel zurückgezogen.“

Vierzehn Tage später waren die Truppen weg. Doch das Aufatmen dauerte nur wenige Wochen. Am 21. August 1968 kamen die Panzer erneut, diesmal wurde der Prager Frühling endgültig niedergewalzt.

Autor: Till Janzer
schlüsselwort:
abspielen