Abschied von Jiří Brady

Jiří Brady
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Jiří Brady hat es als seine Aufgabe gesehen, vom Holocaust zu erzählen. Vor zwei Jahren stand er in Tschechien aber eher im Mittelpunkt innerpolitischer Streitereien. Ende vergangener Woche ist der tschecho-kanadische Holocaustüberlebende im Alter von 90 Jahren gestorben.

Jiří Brady | Foto: Filip Jandourek,  Tschechischer Rundfunk
Seine Kindheit hat er immer als normal oder glücklich beschrieben. Jiří Brady wuchs zwischen den Weltkriegen im mährischen Städtchen Nové Město na Moravě / Neustadtl auf. Vor knapp drei Jahren erzählte Jiří Brady in der Sendereihe „Geschichten des 20. Jahrhunderts“ aus seiner Vergangenheit:

„Meine Jugend war wie ein Märchen. Wir hatten damals eigentlich alles. Wir waren oft Skifahren oder Schwimmen und hatten viele Freunde. Ich kann sagen, dass wir ein gutes Leben hatten.“

Sein Vater war jüdischer Kolonialwarenhändler, auch der kleine Jiří half oft mit im Laden der Familie. Zu seiner Schwester Hana hatte Jiří ein sehr enges Verhältnis. Die Kindheit der beiden fand aber 1939 mit dem Einmarsch der Deutschen im Rest der Tschechoslowakei ein jähes Ende. Die Bradys waren nämlich eine von zwei rein jüdischen Familien in Nové Město na Moravě, weshalb die Eltern schon bald in die Todeslager der Nazis geschickt werden. Jiří und Hanička kamen zunächst bei einer Tante und ihrem katholischen Mann unter. Doch 1942 traf dann auch die beiden Kinder ein schweres Schicksal. Sie wurden in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Jiří war damals 14 Jahre alt:

Jiří und Hana Brady  (Foto: Archiv United States Holocaust Memorial Museum,  mit Genehmigung von Lara Hana Brady)
„Jeder von uns hatte einen Koffer. Ich wusste nicht, ob ich es damit schaffen würde, deshalb habe ich ihn ab und an auf einem Wagen abgestellt. In dieser Zeit kam es zu Entscheidungen, die sehr traumatisch für uns waren.“

Jiří wurde in dem Lager schnell erwachsen, er arbeitete dort als Installateur. Mit seiner Schwester Hana hatte er auch im Ghetto Kontakt, sie konnten sich oft besuchen. 1944 wuchs in beiden die Hoffnung, dass alles bald vorbei sein könnte und dass sie schnell nach Hause zurückkehren würden. Bestärkt wurden sie von den amerikanischen und britischen Bombergeschwadern, die immer häufiger über ihre Köpfe hinwegdonnerten. Doch es kam alles ganz anders, denn Ende des Jahres werden sie in Viehwaggons nach Auschwitz deportiert:

Josef Mengele in Auschwitz  (Mitte) | Foto: Karl-Friedrich Höcker,  Yad Vashem,  public domain
„Auf einmal hielt der Zug an und die Tore gingen auf. Um uns herum war nur Stacheldraht und es standen Nazis in Ledermänteln und mit Maschinengewehren herum. Zu hören war lautes Hundegebell. Wir waren alle sehr müde, deshalb wussten wir nicht, was um uns herum geschieht. Dann kamen andere Gefangene in Uniformen, die uns aus dem Zug zerrten. Ich hatte das Glück, dass mich ein Tscheche erwischte. Er warnte mich, dass ich nun vor Mengele treten würde. Tatsächlich stand der SS-Arzt Mengele da und teilte die Ankommenden in zwei Reihen ein, rechts die Stärkeren und links die Schwachen. Als ich vor ihm stand, sagte ich auf Deutsch ‚gesund‘, wahrscheinlich hat mich das gerettet. Freunde von mir kamen wiederum in die andere Reihe. Zunächst dachten wir, dass wir schwere Arbeiten verrichten sollen und die anderen eher leichte Aufgaben, da sie ja schwächer waren. Am Ende war es so, dass wir zu den schweren Arbeiten kamen, die anderen aber direkt ins Gas gingen.“

Auschwitz | Foto: Yad Vashem,  public domain
Bis zur Befreiung erlebte Jiří Brady in dem Vernichtungslager den Horror des Holocaust. In einem Interview sagte er einmal, dass ihm das Ghetto Theresienstadt während seiner Zeit in Auschwitz wie ein Ausflug vorkam.

Ganz allein ein neues Leben

Jiří Brady überlebte die Schrecken des Vernichtungslagers. Er kehrte zunächst zurück nach Nové Město na Moravě. Dort musste er jedoch feststellen, dass er ganz alleine geblieben ist. Seine Eltern fanden kurz vor Kriegsende in Auschwitz den Tod, ohne ihre Kinder dort noch einmal gesehen zu haben. Auch seine Schwester Hana wurde dort ermordet:

„Ich war im ersten Transport und hatte das Glück, dass sie in Auschwitz noch Arbeiter brauchten. Deshalb habe ich überlebt. Für meine Schwester aber, die erst 13 und körperlich schwächer war, hatten die Nazis keine Aufgabe. Daher musste sie ins Gas.“

Illustrationsfoto: Jordan Holiday,  Pixabay / CC0
Einige Zeit später machte sich der junge Mann auf den Weg nach Prag, er wollte dort studieren und ein neues Leben beginnen. Doch lange hielt es ihn nicht in der tschechoslowakischen Hauptstadt:

„Ich besuchte in Prag die Handelsakademie. Dann kamen die Kommunisten an die Macht. Ich hatte aber die Nase voll von Diktaturen und wollte etwas von der Welt sehen. Damals konnte man als Jude offiziell nach Israel ausreisen. So bin ich ganz offiziell in den Zug gestiegen, bin aber in der russischen Zone in Österreich rausgesprungen und landete in Wien. Ich habe herausgefunden, dass ich Verwandte in Kanada habe, die ich überhaupt nicht kannte. Denen habe ich geschrieben und sie haben mir das nötige Visum geschickt.“

Jiří Brady fand in Kanada eine neue Heimat, aus ihm wird der Kanadier George Brady. In Toronto eröffnete er mit anderen Holocaust-Überlebenden eine Klempnerei, heiratete und bekam drei Kinder – zwei Söhne und eine Tochter.

Über Japan zu einer neuen Lebensaufgabe

Vom Schicksal seiner Schwester erfuhr Jiří Brady allerdings erst 55 Jahre später, als plötzlich eine Japanerin mit einem Koffer seiner Schwester vor seinem Haus in Kanada stand. Es war die Leiterin des Holocaust-Zentrums in Tokio, Fukimo Ishioka. Um den japanischen Kindern die schrecklichen Ereignisse aus der düsteren Epoche des Nationalsozialismus anschaulich zu erklären, bat sie das Museum in Auschwitz um die Zusendung von Gegenständen, die einst jüdischen Kindern gehört hatten. Eines Tages landete ein Koffer von dort in Tokio. Auf dem Koffer stand der Name Hana Brady, das Geburtsdatum 16. Mai 1931 und das Wort „Waisenkind“. Gegenüber den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks sagte Ishioka:

Fumiko Ishioka  (Foto: YouTube)
„Das war im Jahr 2000. Den Koffer stellten wir ganz zentral in einer Vitrine aus. Besonders Kinder fanden ihn interessant und fragten, wo er denn herkomme und wer denn Hana gewesen sei. Und vor allem, was ihr passiert sei. Die Geschichte hinter dem Koffer hat uns nicht losgelassen.“

Die Besucher sollten begreifen, was in jener schrecklichen Zeit alles verlorengegangen sei, fügte die Historikerin in einem Feature des Tschechischen Rundfunks noch hinzu. Fukimo Ishioka wollte deshalb aus dem Koffer ein Symbol für das Leben machen. Die Historikerin stellte Nachforschungen an und kam so nach Theresienstadt. Sie wurde dort fündig und bekam auch einige Zeichnungen von Hana Brady. Eines war aber viel wichtiger – sie erfuhr, dass Hanas Bruder Jiří noch am Leben ist und dass er in Kanada wohnte.

Foto: Verlag Ravensburger
„Ich konnte das alles erst nicht glauben, dass ich Hanas Bruder gefunden habe. Gleich nach meiner Rückkehr habe ich ihm einen Brief geschrieben. Ich hatte Angst, dass ich ihn damit verletzen würde. Er hatte ja seine kleine Schwester verloren und die Erinnerung an sie war sicher sehr schmerzhaft. Aber ich wollte ihm einfach schreiben, wie viel Hanas Schicksal uns bedeutet. Ich wusste nicht, ob Jiří antworten würde. Dann aber kam ein vierseitiger Brief mit einem Foto von Hana Brady.“

Auch Jiří Brady konnte es kaum fassen. Und zudem bekam er eine neue Lebensaufgabe – er wollte über die Grauen des Holocaust aufklären. Denn dieser dürfte sich nicht wiederholen, wie er einmal gegenüber dem Tschechischen Fernsehen sagte:

„Mich hat am meisten gestört, dass Menschen, die wie ich nach Theresienstadt, Auschwitz oder in andere Konzentrationslager deportiert wurden, nach dem Krieg erfahren mussten, wie sich eine Mehrheit von den Geschehnissen abkehrt. Anstatt etwas zu tun, glaubten viele, dass sich die Welt geändert hätte und dass so etwas wie der Holocaust nicht mehr passieren könnte.“

Über die Suche der Japanerin und den unglaublichen Zufall, dass es ihr gelungen ist, den Bruder von Hana zu finden, berichtete eine jüdische Zeitung aus Kanada. Den Artikel las eine Radioproduzentin, die ein Interview mit Jiří Brady machte. Aus diesem Interview entstand eine preisgekrönte Radiosendung und als Folge das Buch „Hanas Koffer“, das mittlerweile in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde. Jiří Brady selbst fing an, immer mehr über seine und Hanas Geschichte zu erzählen. Oft wurde er von Schulen eingeladen, auch außerhalb Kanadas. Nur in Tschechien selbst sei er ein bisschen in Vergessenheit geraten, wie er sich einmal bei einer Talkshow beschwerte.

Im Zentrum innenpolitischer Streitigkeiten

Daniel Herman  (Foto: David Sedlecký,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0)
In Tschechien kam Jiří Brady im Jahr 2016 in den Fokus von Medien und Öffentlichkeit. Und das wegen einer eher unrühmlichen Geschichte. Brady sollte ursprünglich von Präsident Miloš Zeman ausgezeichnet werden. Der damalige Kulturminister Daniel Herman (Christdemokraten) – ein entfernter Neffe Bradys – traf inzwischen aber mit dem tibetischen Dalai Lama zusammen. Danach sei die Auszeichnung für seinen Onkel gestrichen worden, teilte Herman mit. Jiří Brady zeigte sich davon enttäuscht:

„Ich habe schon so viele Auszeichnungen bekommen, dass mir eigentlich ganz egal ist, ob ich noch diesen Orden umgehängt bekomme. Ich wurde schon vom deutschen Präsidenten geehrt, von der Regierung Ontarios und von Königin Elisabeth. Aber es wäre schön gewesen, wenn auch meine Heimat an mich gedacht hätte.“

Brady erhielt dann aber in Tschechien zahlreiche andere Anerkennungen. Der damalige Premier Bohuslav Sobotka (Sozialdemokraten) verlieh ihm die Karel-Kramář-Medaille. Brady wurde zudem vom Abgeordnetenhaus, von den Städten Prag und Brno / Brünn sowie von der Palacký-Universität in Olomouc / Olmütz ausgezeichnet. Jiří Brady starb am vergangenen Wochenende im Alter von 90 Jahren in Toronto.