Hanas Koffer
Hanin kufrik - Hanas Koffer, so lautet der Titel eines Kinderbuches, das im Oktober in Tschechisch erschienen ist. Das Buch erzählt eine lange, vor allem traurige Geschichte, die in im Jahre 1931 in Mähren beginnt, über Theresienstadt und Auschwitz nach Japan und Kanada im Jahre 2000 führt und vielleicht doch so etwas wie ein Happy End hat. Zu Beginn der Geschichte war ein Koffer, am Ende eine Radiosendung und ein Kinderbuch über das kurze Leben eines jüdischen Mädchens aus Mähren.
Die Familie Brady lebte in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts ein gewöhnliches Leben in dem mährischen Städtchen Nove Mesto. Jiri Brady erinnert sich an eine glückliche Kindheit.
"Wir gehörten zur Mittelschicht, unsere Eltern hatten einen Laden auf dem Hauptplatz. Unser Vater war voll in das dortige Leben eingebunden. Er spielte Theater, war Kapitän der Fußballmannschaft, bei der freiwilligen Feuerwehr. Hana und ich spielten mit den anderen Kindern, wir fuhren im Winter Schlittschuh und Ski, badeten im Sommer im Teich - wir lebten, wie alle anderen Kinder."
Doch das Leben der Familie Brady änderte sich mit der Errichtung des Protektorats im März 1939. Hana und Jiri waren die einzigen jüdischen Kinder in dem Städtchen und spürten die Veränderungen am meisten. Erst durften sie nicht mehr auf den Spielplatz, dann ins Kino und schließlich in die Schule. 1941 wurden die Eltern verhaftet, ein Jahr später starben sie in Auschwitz. Die Kinder lebten einige Monate bei ihrem katholischen Onkel. Allein, ohne Eltern oder andere Verwandte mussten sich Hana und Jiri eines Tages zu einem Transport melden. Ihren 11. Geburtstag feierte Hana im Mai 1942 in einem Sammellager auf dem Weg nach Theresienstadt. Zwei Jahre verbrachten die beiden in Theresienstadt. Immer wieder glückte ihnen ein Treffen, immer wieder konnten sie sich gegenseitig trösten. Im Herbst 1944 wurde Jiri in einen Transport nach Auschwitz eingereiht. Vier Wochen später folgte Hana. Sie freute sich auf ein Wiedersehen mit ihrem Bruder. Doch gleich nach ihrer Ankunft in Auschwitz wurde Hana in die Gaskammer geführt. Sie war 13 Jahre alt.
"Ihr Tod ist bis heute ein Problem für mich. Wir hatten unsere Eltern verloren, ich bin allein mit meiner Schwester in das KZ gegangen. Ich war drei Jahre älter als sie und habe es als meine Pflicht angesehen, mich um sie zu kümmern und sie wieder heil nach Hause zu bringen. Und das habe ich nicht geschafft - auch wenn ich keinerlei Einfluss darauf hatte, plagt es mich trotzdem, dass sie alleine in den Tod gegangen ist. Jahrelang konnte ich deswegen nicht schlafen. Je älter ich wurde, desto schlimmer wurde es. Und dann tauchte der Koffer auf und die ganze Geschichte."
Ende der 90er Jahre wurde in Tokio ein Holocaust-Zentrum gegründet, in dem japanische Kinder über die schrecklichen Ereignisse, die in einem fernen Kontinent vor langer Zeit geschahen, unterrichtet werden. Um den Kindern den Holocaust anschaulich zu erklären, bat die Leiterin des Zentrums, Fukimo Ishioka, das Museum in Auschwitz um die Zusendung von Gegenständen, die einst jüdischen Kindern gehört hatten. Eines Tages erreichte ein Koffer aus Auschwitz Tokio. Auf dem Koffer stand der Name Hanna Brady, das Geburtsdatum 16.5.1931 und das Wort "Waisenkind". Der Koffer wurde zum wichtigsten Gegenstand für die Arbeit von Fukimo Ishioka und stand im Mittelpunkt des Interesses. Immer wieder stellten die Kinder die gleichen Fragen: Wer ist Hanna Brady? Was ist mit ihr geschehen? Also machte sich Fumiko Ishioka auf die Suche. Sie schrieb zahlreiche Briefe und langsam setzte sich ein Mosaik zusammen. Zunächst erhielt sie aus Auschwitz die Mitteilung, dass Hana Brady aus Theresienstadt nach Auschwitz deportiert worden war. Aus Theresienstadt wiederum erreichten einige Bilder, die Hana dort gemalt hatte, Tokio - doch niemand wusste mehr über das jüdische Mädchen und ihr Schicksal. Die japanischen Kinder fragten ungeduldig und so reiste Fumiko Ishioka nach Tschechien und endlich wurde sie fündig: in Theresienstadt erfuhr sie durch Zufall, dass Hana einen älteren Bruder hatte - Jiri, dass dieser den Holocaust überlebt hat und nun in Kanada lebt. Über die Suche der Japanerin und den unglaublichen Zufall, dass es ihr gelungen ist, den Bruder von Hana zu finden, berichtete eine kanadische jüdische Zeitung. Den Artikel wiederum las eine Radioproduzentin, die so fasziniert war, das sie gleich ein Interview mit Jiri Brady machen wollte - aus diesem Interview wurde eine eindrucksvolle, preisgekrönte Radiosendung, und aus dieser ein Kinderbuch, das seit seinem Erscheinen im April 2002 zahlreiche Preise gewonnen hat, in 20 Ländern erschienen ist und allein in Japan über 100.000 mal verkauft wurde.
In dem Buch "Hanas Koffer" erzählt die kanadische Journalistin Karen Levine die Geschichte der Suche von Fukimo Ishioka, zugleich schildert sie das zunächst sorgenfreie Leben der Geschwister Jiri und Hana. Wie eine Detektivgeschichte kommen sich die beiden Erzählstränge näher - sowohl Jiri und Hana als auch Fumiko Ishioka sind schließlich in Theresienstadt, die Geschwister 1942, die Japanerin im Jahre 2000. Hier malte Hana Brady Bilder, die sich heute im jüdischen Museum in Prag befinden. Im Buch sind neben den Bildern von Hana viele Photos aus glücklichen Tagen abgebildet.
"Ich habe viele Photos. Ich hatte das Glück, dass mein Onkel Katholik war und deshalb zu Hause bleiben konnte. Als die SS-Männer kamen und unsere Wohnung beschlagnahmten, durften wir einige persönliche Dinge mitnehmen. Ich war 13, meine Schwester 10 Jahre alt und wir haben die Photos mitgenommen - die blieben dann bei meinem Onkel. Ich glaube, das Buch ist auch deshalb so erfolgreich, weil dort die Photos sind. Die Kinder sehen, wie Hana aussah, wie sie Schlitten fuhr oder Schlittschuh, es gibt auch ein Photo von unserem Hund. "
Jiri Brady ist froh, dass er den Koffer seiner kleinen Schwester nach knapp 60 Jahren wieder gefunden hat und er ist froh, dass das kurze Leben seiner Schwester einen Sinn hatte:
"Das Buch hat wirklich eine große Wirkung auf Kinder. Sie schreiben mir in 100en von Briefen und Emails, wie das Buch auf sie gewirkt hat, wie es ihr Leben verändert hat. Das ist unglaublich. Auf einmal werden sie sich bewusst, was es bedeutet, Eltern zu haben. Sie freuen sich plötzlich, wenn sie nach hause kommen und ihre Geschwister sehen, mit denen sie sonst immer streiten. Sie werden sich bewusst, dass es auch anders sein könnte, dass nicht alles so selbstverständlich ist, wie es ihnen scheint - und das ist Hanas Anteil an der Geschichte - sie hat es geschafft, diese Erkenntnis 100.000en von Kindern beizubringen."
In dem 100seitigen Kinderbuch ersteht aus der anonymen Zahl der Millionen Holocaust-Opfer plötzlich ein konkretes Leben, das eines blonden, lebhaften Mädchens, das gerne Schlittschuh läuft und mit ihrem großen Bruder streitet. Am Anfang war ein Koffer, am Ende ein Buch, das Sie erst aus der Hand legen werden, wenn Sie es zu Ende gelesen haben.