Achtung Acht! Tschechien und die Achter-Jahre (3)
Die Acht mag für viele eine normale Ziffer sein, für einige wenige sogar eine persönliche Glückszahl. Für das tschechische Volk ist die Acht jedoch eine Schicksalszahl. In den Geschichtskapiteln vom Januar haben wir für sie bereits die wichtigen Achter-Jahre in der tschechischen Geschichte aufgezählt. In den folgenden Minuten hören sie, wie die Acht in der tschechischen Gesellschaft wahrgenommen wird. Es begleitet sie Bára Procházková:
„Das Interesse der Medien steigt und die Personen, die in den neunziger Jahren wegen ihrer Karriere keine Zeit hatten, kommen jetzt in eine persönliche Phase der Reflexion. Wir bekommen jetzt auch Anfragen von ehemaligen politischen Gefangenen, die in den neunziger Jahren kein Vertrauen in die Strukturen des Innenministeriums hatten.“
Die Diskussion um das Interesse der Gesellschaft an der kommunistischen Diktatur wurde am 19. Februar auch in der tschechischen Botschaft in Berlin geführt - bei dem Podiumsgespräch unter dem Titel „Achtung Acht“. Die Organisatoren –die deutsche Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die tschechische Botschaft Berlin sowie das Institut für das Studium der totalitären Regime in Prag - wollten dem deutschen Publikum das tschechische „Achter-Schicksal“ näher bringen. Der tschechische Botschafter Rudolf Jindrák sieht in Deutschland jedoch einen klaren Fokus auf ein konkretes Achter-Jahr:
„In Deutschland gibt es immer ein Interesse für die Ereignisse im Jahr 1968, denn dieses Jahr spielt auch für Deutschland eine Rolle. Einige Leute auch aus der deutschen Politik sind mit dem Prager Frühling direkt persönlich verbunden. Für mich war es auch eine Überraschung, als ich erfahren habe, wie viele deutsche Politiker damals als Studenten den Frühjahr oder den Sommer in Prag verbracht haben.“
Obwohl die Erfahrung der kommunistischen Diktatur in Tschechien und im ehemaligen Ostdeutschland fast identisch ist, kann man die deutsche Ostalgie in Tschechien kaum finden. Einer der Gründe dafür ist, dass die tschechischen Kommunisten sich bis heute nicht reformiert haben und nach wie vor eine wichtige Rolle in der Politik des Landes spielen. Es gibt aber auch andere Erklärungen, warum es in Tschechien keine Ostalgie gibt, meint der Publizist und Diplomat Tomáš Kafka:„Die Nostalgie in Deutschland ergibt sich daraus, dass man zwei Diktaturen hatte. Davon hat man dann nur die eine wirklich ernst genommen, die andere wird eher locker betrachtet. Das hat einen Zusammenhang mit dem Historiker-Streit, in dem es darum geht, dass Nationalsozialismus und Kommunismus nicht vergleichbar sind. So ist es den ostdeutschen Kommunisten leichter gefallen, sich der Geschichte zu stellen. In Tschechien gab es nur eine einzige Diktatur und deshalb waren die Leute gezwungen, den Kommunismus ein bisschen ernster zu nehmen, als es in der ehemaligen DDR der Fall war.“
Trotzdem gibt es einen Punkt, an dem die deutsche Gesellschaft im Bereich der Aufarbeitung von den Tschechen lernen könnte – im Umgang mit den alten Akten der Staatssicherheit, meint der Korrespondent der Zeitung „Die Welt“ in Prag Hans-Jörg Schmidt:
„Man muss vorsichtig sein. So wie die Staatssicherheit in der kommunistischen Diktatur Leben zerstört hat, können auch solche Akten, die nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen müssen, Menschenleben zerstören. Ich würde mir wünschen, dass man in Deutschland mit diesen Dokumenten nicht so leichtgläubig umgeht, sondern mit einem gewissen Abstand, wie ich es in Prag oder in Bratislava erlebe.“
Auch wenn das Interesse der Bevölkerung an der eigenen Geschichte schwankt, standen die wichtigen politischen Ereignisse der Achter-Jahre immer im Mittelpunkt der Forschung von Historikern. Es gibt jedoch bis heute viele weiße Flecken, sagt der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte Oldřich Tůma:
„Die Geschichtsschreibung hat sich bisher nicht so stark mit dem Alltag der Menschen im Sozialismus beschäftigt. Des Weiteren fehlen Studien zur Entwicklung der Kultur oder zum Vergleich der Situationen in den Nachbarstaaten. Dies sollte auch ein wichtiger Zugang zu der Forschung darüber sein, was der Kommunismus mit der Gesellschaft gemacht hat.“Die tschechischen Historiker arbeiten mit ihren deutschen Kollegen sehr eng zusammen. Das ganze Forschungsgebiet „Zeitgeschichte“ wurde in den neunziger Jahren nach deutschem Vorbild übernommen. So kann man auch die Prozesse in der tschechischen Gesellschaft vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus Deutschland beobachten und feststellen, dass sich vieles wiederholt. So stellt 18 Jahre nach der Wende - genauso wie in Deutschland nach dem Krieg – gerade die junge Generation die Fragen. Die Achter-Daten sollen aber nur eine Krücke sein, um die Themen langfristig in die Medien und auf die politische Agenda zu setzen, damit eine Diskussion in der Gesellschaft entstehen kann. Die Hauptfrage lautet: Welches Achter-Jahr war für die Gesellschaft am Wichtigsten?
„Das entscheidende Jahr für die Tschechen ist für mich das Jahr 1988. Vor allem während der Palach-Woche habe die Tschechen ihren Mut gezeigt, selbst etwas zu unternehmen.“
„Das, was unsere Sensibilität und Wahrnehmung beeinflusst, ist das Jahr 1968 und dann das Ende der achtziger Jahre, also vor allem das Jahr 1988.“
„Am wichtigsten sollte es sein, sich mit 1918 zu beschäftigen. Das sollte uns darauf aufmerksam machen, dass wir uns um den Staat besser kümmern sollten.“
„Das Jahr 1948 hat die Entwicklung der tschechischen Gesellschaft um 180 Grad gedreht. Bis dahin hat sich die Tschechoslowakei gesellschaftspolitisch und kulturell genauso wie alle anderen westlichen Staaten entwickelt. Nun kam es zur einer Kehrtwende, und die Folgen spüren wir bis heute. Das Jahr 1948 war das größte Unglück!“
„1918, denn damals ist die tschechoslowakische Staatlichkeit entstanden.“
Und so geht die Diskussion weiter…