Alle Jahre wieder: In Prager Straßen springen Zehntausende Weihnachtskarpfen über die Klinge

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Kurz vor Weihnachten prägen sie das Straßenbild in Prag: die Karpfenverkäufer mit ihren großen Wasserbassins und den Schlachtbänken auf den Plätzen und Bürgersteigen der Stadt. Hier verrichten sie bis zum Heiligen Abend ihr blutiges Geschäft. Zehntausende von Karpfen müssen öffentlich über die Klinge springen. Denn Weihnachten ohne Karpfen ist für Tschechen wie Ostern ohne Eier. Schlicht unvorstellbar. Christian Rühmkorf hat sich das tödliche Schauspiel angesehen.

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Das Prager Einkaufsviertel Anděl, Engel zu Deutsch. Straßenbahnen fahren kreuz und quer und die Menschen jagen bei minus 12 Grad den letzten Weihnachtsgeschenken hinterher. Auf dem breiten Fußweg drei große Bassins randvoll mit eisigem Wasser. Darin eine schwarze Rückenflosse neben der anderen, dicht an dicht. Vor den Bassins ein großer, langer Tisch. Blutig. Blut auch auf dem Kopfsteinpflaster. Den Rettungssanitäter in seiner roten Jacke stört das nicht, er lässt gerade zwei große Karpfen von der Schlachtbank in seine Plastiktüte gleiten.

„Die beiden sind für eine Patientin, die da vorne im Krankenwagen sitzt. Sie ist schlecht zu Fuß und da hab ich das eben für sie erledigt hier. Es ist Weihnachten, da müssen wir uns doch gegenseitig helfen“, sagt Sanitäter Jaroslav. Er habe zwei kleine Kinder und da sei der Weihnachtskarpfen auch bei ihm zu Hause Pflicht, meint er:

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„Wir kaufen den Karpfen immer zwei Tage vor Heiligabend und stecken ihn in unsere Badewanne. Wir können dann zwei Tage nicht duschen. Dann kriegt er eins auf die Nuss – das muss ich machen. Ich hab dabei immer ein etwas morbides Gefühl, aber das ist eben Sache des Familienvaters. Dann wird der Karpfen ausgenommen, filettiert, paniert und gebraten. Und dann essen wir ihn auf.“

Jaroslav wünscht frohe Weihnachten und steigt mit den Fischen in seinen Rettungswagen.

Karpfen muss frisch auf den Tisch. Wenige Tage vor Weihnachten stehen sie deshalb plötzlich an jeder Ecke in Prag, die Schlachtbänke und die Bassins. Wie hier bei Anděl. Karpfenschlachter David hantiert mit seiner weißen, blutbespritzten Schürze auf der Schlachtbank. Vor ihm große und kleine Messer. Immer wieder muss er heute mit bloßen Händen in das eiskalte Wasser fassen und einen Fisch aus dem Köcher angeln. Halb so schlimm, meint er:

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„Das ist nur übel bei den ersten Karpfen. Wenn man die ausgenommen hat, dann hat man überall an den Händen das Fischfett. Das schützt vor der Kälte. Dann gibt es ab und zu einen Grog. Und das wärmt dann auch von innen.“

David und seine zwei Kollegen haben allein heute über 200 Karpfen gekonnt ins Jenseits befördert. Jetzt zieht er gerade ein Vier-Kilo-Prachtexemplar aus dem Bassin. Die Kundin mittleren Alters hält gebührenden Abstand zur Schlachtbank und kneift die Augen zusammen:

„Ich hab ein bisschen Angst davor. Aber trotzdem esse ich ihn gern. Es ist eben ein Weihnachtsbrauch.“

Der Karpfen liegt unter Davids festem Griff mittlerweile auf der Schlachtbank. Und zappelt in böser Vorahnung. Ein paar Sekunden später kracht der Knüppel auf die Karpfenstirn. Dann geht alles ruckzuck. David sticht in den Schwanz, durchtrennt die Nerven; schneidet mit einiger Mühe den Kopf ab, kratzt die Schuppen herunter und nimmt den immer noch zuckenden Fisch aus.

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Ein grausames Schauspiel, finden Gegner dieser Tradition. Gestern kam auch bei ihm eine Gruppe von Tierschützern vorbei, erzählt Karpfenverkäufer David:

„Es gab aber keine Probleme. Die haben nur Flugblätter verteilt und gesagt, wie grausam das ist Karpfen umzubringen. Das ist halt Ansichtssache, habe ich gesagt. Das gehört eben zur Weihnachtstradition in Tschechien.“

Und mit dieser Tradition wachsen schon die kleinen Tschechen und Tschechinnen auf. Mit großen Augen streichelt die fünfjährige Anička die schuppigen Rücken im Bassin und zupft ihrem Vater am Ärmel. „Gleich springt er“, sagt sie lachend. Morgen wird auch bei ihr zu Hause in der Badewanne ein Karpfen schwimmen.