Antikomplex: Ein Heilmittel gegen die Komplexe der tschechischen Gesellschaft?

Foto: www.mujweb.cz
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Das Wort Antikomplex setzt sich aus zwei Wörtern zusammen - aus "gegen" und "Komplex". Gemeint sind diejenigen Komplexe, die in der tschechischen Gesellschaft zu finden sind und deren Wurzeln in der nicht verarbeiteten Vergangenheit entstanden sind. Die Bürgerinitiative "Antikomplex" hat sich die Aufgabe gestellt, diese Komplexe zu beseitigen. Ihre Arbeit erntet Früchte, denn für ihr Engagement erhalten die Mitglieder der Initiative am kommenden Mittwoch in Berlin den Georg-Dehio-Kulturpreis 2005 des Deutschen Kulturforums östliches Europa. Bara Prochazkova stellt den Verein vor.

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Gesellschaftliche Komplexe entstehen aus einem schlechten Gewissen, das durch die mangelnde Reflexion des eigenen Handelns in der Vergangenheit ausgelöst wird, erklärt Ondrej Matejka den Hintergedanken. Mit ihrer Arbeit tragen die jungen Tschechen bereits seit 1998 zur Aufarbeitung der deutsch-tschechischen Geschichte bei. Nicht nur im Studium, sondern bereits in der Kindheit wurden die jungen Menschen mit der Situation im tschechischen Grenzgebiet konfrontiert. Manche sind dort aufgewachsen, andere kamen regelmäßig dorthin. Keiner konnte ihnen jedoch sagen, warum die Gegend im Grenzgebiet anders ist als im tschechischen Inland, erinnert sich Petr Miksicek an seine ersten Begegnungen mit der dortigen Landschaft. Das Schicksal des Grenzgebiets ließ ihn und seine Mitstreiter im Verein Antikomplex nicht mehr los:

"Unsere Arbeit entwickelte sich zunächst eher aus politikwissenschaftlichen Diskussionen über die Sudetenproblematik heraus: zum Beispiel über die so genannten Benes-Dekrete sowie über die Begriffe Vertreibung oder Umsiedlung der Sudetendeutschen. Also wir haben viel untereinander diskutiert, seit gut vier Jahren bemühen wir uns nun darum die Gesellschaft direkt anzusprechen und ihnen ganz einfach Fakten vorzulegen. Wir zwingen also Menschen, dass sie sich etwas ansehen, darüber nachdenken und sich eine eigene Meinung bilden. Das Schicksal des Grenzgebietes ist so ausdrucksstark, dass man sich einfach eine Meinung bilden muss. Wir zwingen keinen, die Menschen bilden sich ihre Meinung anhand der von uns vorgelegten Daten einfach selber."

So kam Petr Miksicek in 2001 auf die Idee, Fotografien als Fakten und Argumente zu nutzen. Das bekannteste Projekt von Antikomplex ist eine Ausstellung von Bildern aus dem Grenzgebiet: "Das verschwundene Sudetenland" - eine fotografische Gegenüberstellung der Situation vor dem Zweiten Weltkrieg und heute. Die Vertreibung der Deutschen und die darauf folgenden Veränderungen im Grenzgebiet stehen also im Mittelpunkt der Tätigkeit von Antikomplex. Es werden Diskussionsrunden mit Jugendlichen in Schulen veranstaltet, aber auch die ältere und direkt betroffene Generation gehört zum Zielpublikum. Der Doktorand Ondrej Matejka betont jedoch dabei, dass es angesichts des jungen Alters der Antikomplex-Mitglieder eine Herausforderung ist, über den Krieg und über die Vertreibung mit dem älterem Publikum zu sprechen:

"Das ist selbstverständlich eine ernste Sache, wenn wir jemanden etwas über die Zeit erzählen wollen und wir es selbst die Zeit nicht miterlebt haben. Wir haben festgestellt, dass man mit den Zeitzeugen sehr sensibel über die Geschehnisse sprechen muss. Am Anfang war es uns nicht so bewusst, aber wir haben mit der Zeit versucht dies zu lernen und sind auch immer noch dabei."

Die Fotografien bieten den engagierten jungen Menschen eine ganze Reihe von Fakten, die nicht einfach so widerlegt werden können, fügt Ondrej Matejka hinzu. Der Doktorand an der Karlsuniversität Matej Spurny bestätigt, dass die Form der Auseinandersetzung mit dem Thema das Wichtigste ist:

"Unserer Erfahrung nach reagieren Menschen auf historische Vorträge mit vielen gesellschaftspolitischen und ideologischen Thesen eher allergisch und nicht besonders konstruktiv. Im Gegensatz dazu nehmen die Menschen Fragen, die in Form von Fotografien versteckt sind, wesentlich positiver auf und reagieren offener. Die anschließenden Diskussionen sind meist konstruktiver."

Petr Miksicek beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den verschwundenen Traditionen der Menschen und der Landschaft im Grenzgebiet. Antikomplex wolle die Einwohner darauf aufmerksam machen, dass die traditionelle Kultur, die aus den Sudeten verschwunden ist, der Landschaft und den Menschen fehlt, erklärt Miksicek:

"Heute gibt es dort die so genannten Post-Sudeten, es handelt sich um eine ausgewechselte Landschaft. Der landschaftliche Rahmen ist dort natürlich geblieben, denn die Landschaft kann man nicht vertreiben oder abschieben. Obwohl alles Materielle blieb, zeigte sich, dass die geistige Kultur und Erinnerung wichtiger ist. Die jetzigen Bewohner des Grenzgebietes sind im Moment nicht fähig, diese Inhalte in ihre eigene Gegenwart einzubeziehen. Ein Teil der Landschaft, der Kulturlandschaft, ist also abgestorben. Die ehemaligen Bewohner gibt es in der Gegend kaum noch und die angesiedelten Menschen können mit dem Potential der Vergangenheit nicht umgehen."

Das Projekt "Verschwundenes Sudetenland" stößt vor allem im Grenzgebiet auf reges Interesse, je weiter von der Grenze entfernt, desto weniger polarisiert es. Es gebe auf das Projekt aber vorwiegend positive Reaktionen, sagt Matej Spurny:

"In Deutschland sind die Reaktionen mehr oder weniger positiv. Für Deutsche ist es eine gute Nachricht, dass in Tschechien über solche problematischen Themen gesprochen wird. Gleichzeitig wird über die Themen anders gesprochen, als zum Beispiel aus den Interviews mit dem Staatspräsidenten Vaclav Klaus bekannt. In Deutschland gibt es meistens zwei Arten von Reaktionen. Erstens sind es Sudetendeutsche, die in den westlichen Teil Deutschlands vertrieben wurden, die eine Tendenz haben, unsere Initiative auszunutzen. Sie sagen dann: Sehen sie, endlich sind sie darauf gekommen, was sie uns angetan haben. Die zweite Gruppe der Reaktionen, die wir auch öfters in Tschechien erleben, bezieht sich darauf, dass wir nicht über die Verbrechen der Deutschen sprechen. Wir erklären aber immer, dass es sich um eine tschechische Initiative handelt, die kritisch die tschechische Geschichte beleuchtet. Die Fehlverhalten der Deutschen, steht bei unserer Ausstellung nicht im Vordergrund."

Auch nach der Auszeichnung mit dem Georg-Dehio-Preis 2005 sollen die Projekte weiter geführt werden, sagt Susanne Zetsch, die als einzige Deutsche mit der Initiative Antikomplex seit einigen Jahren zusammen arbeitet. Die finanziellen Mittel sollen für die Verbesserung des Internetauftritts genutzt werden, fügt sie hinzu:

"Der Preis ist für uns nicht nur eine finanzielle Unterstützung, sondern vor allem eine Anerkennung unseres Engagements. Wir haben dem Thema viel Energie und viel Zeit gewidmet und es ist eine große Herausforderung für uns, unsere Arbeit auch weiterhin fortzusetzen."

In der Zukunft stehen neue Projekte an, ältere sollen erweitert und weitergeführt werden. Die Situation im Sudetenland wird weiter thematisiert werden, eine Typologie der Veränderungen im Grenzgebiet soll dargestellt sowie ein Buch mit Geschichten und Menschenschicksalen aus dem Sudetenland soll herausgegeben werden, zählt Matej Spurny auf. Rund 20 Einzelschicksalen sollen beleuchtet werden. Sie sollen zeigen, wie sich das Schicksal der Landschaft im Schicksal der Menschen widerspiegelt. Eine neue Fotoausstellung steht auch auf dem Programm, dazu Petr Miksicek:

"Wir besitzen vermutlich die größte Sammlung von Fotografiepaaren, die aus der Vogelperspektive vom Flugzeug aus gemacht wurden. Es handelt sich zum einen um Bilder des Grenzgebietes zwischen den Jahren 1936 und 1951 sowie zwischen 1995 und 2000. Es ist eine interessante Gegenüberstellung. In den Büchern kommen die Flugzeugbilder leider nicht so richtig heraus. Zusammen mit dem `Verein für die Wiederbelebung der Kulturlandschaft` möchten wir also eine solche Ausstellung organisieren."

Das Projekt "Verschwundenes Sudetenland" solle jedoch nicht in Vergessenheit geraten - im Gegenteil. Antikomplex hat ein pädagogisches Konzept entwickelt, wie Kinder und Jugendliche selber die eigene Umgebung entdecken können. Sie sollen nun selbst alte Fotografien sammeln und neue knipsen. Damit versprechen sich die Mitglieder von Antikomplex, dass die Auseinandersetzung der tschechischen Gesellschaft mit der eigenen Geschichte vorangetrieben wird.