Auf der Hacienda: alte Rundfunkberichte über die tschechische Emigration nach Südamerika
Auf allen Kontinenten der Erde gibt es tschechische Siedlungen. Sie entstanden mehrere Jahrhunderte hinweg, vor allem wenn Not und Elend oder politische Unterdrückung die Menschen auswandern ließen, aber auch einfach aus Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Zu der weniger bekannten, jedoch sehr interessanten Emigrationsbewegung gehört jene nach Südamerika. In den Archiven des Tschechischen Rundfunks sind Berichte erhalten aus der Zwischenkriegszeit über die tschechischen Siedlungen in diesem Teil der Welt.
Etwa 40.000 Auswanderer nach Südamerika registrierten die tschechoslowakischen Behörden in den 1920er Jahren, ihr Ziel war vor allem Argentinien und Ecuador. Die Regierung in Prag legte ihnen keine Hindernisse in den Weg, sie half später sogar den Siedlern. So schickte sie zum Beispiel den Arzt Josef Vondráček nach Ecuador, er kümmerte sich vier Jahre lang dort um die medizinische Betreuung von Tschechen. Nach seiner Rückkehr im Jahr 1938 berichtete er im Tschechoslowakischen Rundfunk:
„Durch meinen Kopf ziehen sich wie in einem bunten Kaleidoskop die Bilder der tropischen Meeresküste von Esmeraldas bis zur peruanischen Grenze. Das majestätische Massiv der Anden mit seinen weisen Schneemützen umrahmt den Horizont. Quito, Guayaquil, aber auch viele abgelegene Dörfer sind bereits mein zweites Heim geworden. Mit Gänsehaut erinnere ich mich an meine erste Nacht bei den Goldgräbern im Einzugsgebiet des Flusses Chuchumbletza, wo auch unsere Landsleute mit der harten und unbeugsamen Natur ringen. Meine Gedanken gehen ebenso an die Gebrüder Kubeš, deren Hacienda Moravia, so heißt ihr ausgedehntes Landgut, ein perfekter Beweis der Tüchtigkeit und Standhaftigkeit der Tschechen ist und den verdienten Respekt der Einheimischen hat. Im nächsten Jahr werden die Kubešs ihr zehnjähriges Jubiläum in Ecuador feiern. Auf ihrer Farm haben auch viele unserer Landsleute gearbeitet, so die Žáks, die Levíčeks und andere.“Eine Tagesreise durch die Wildnis: die Hacienda Moravia
Wie Josef Vondráček hinzufügte, befand sich die Hacienda Moravia zu Anfang eine Tagesreise durch wilde Natur von der Zivilisation entfernt. Mit dem Lauf der Zeit entstanden aber mehrere weitere Landgüter in der Umgebung, deren Bewohner den Urwald zu Weiden und Felder umwandelten. Die erwähnte Familie Levíček verließ später die Hacienda Moravia und gründete eine Fabrik für Parkettböden. Josef Vondráček vermittelte über die tschechoslowakische Botschaft in Quito zum Beispiel die Lieferung von Maschinen aus seiner Heimat an diesen Betrieb.Nach Südamerika, konkret nach Argentinien, wurde 1935 auch Rudolf Kocourek geschickt. Seine Aufgabe war es, in der Stadt Presidencia Roque Sáenz Peňa, über 1000 Kilometer nördlich von Buenos Aires, eine tschechische Schule zu gründen. Die ersten Tschechen waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg in die Gegend gekommen und trugen dort zum wirtschaftlichen Aufschwung bei. Sie begannen unter anderem Baumwolle zu züchten, die dort früher nicht bekannt gewesen war. Über die Hilfe der tschechoslowakischen Regierung waren sie den Berichten nach hoch erfreut und bereiteten Rudolf Kocourek einen großartigen Empfang. Ziemlich bald stellte sich jedoch heraus, dass alles nicht so einfach werden würde. Kocourek erinnerte sich 1938 in einer Aufnahme für den Rundfunk:
„Die tschechischen Landsleute und ich bereiteten einen Kinderabend vor. Dabei habe ich die Kinder begrüßt und ihnen die bekanntesten tschechischen Märchen erzählt. Der Auftritt gelang rundum: Die Kinder hörten gebannt zu. Sie lachten aber nicht. Aus ihren Gesichtern konnte man ihr Interesse, ja auch die Faszination lesen, bei meinen Fragen waren sie aber ratlos. Den Grund erkannte ich erst später: Sie verstanden meine Worte, aber nicht ihren Sinn. Die Kinder waren meist in Argentinien geboren, und ihre Eltern lebten dort auch bereits seit mehr als zehn oder zwanzig Jahren. Obwohl sie alle relativ gut Tschechisch sprachen, war ihnen das Land selbst aber fremd. Jedes dritte Wort aus unserem bekanntesten Märchen ‚Die Großmutter‘ (Babička von Božena Němcová, Anm. d. Red.) haben die Kinder nie im Leben gehört. Dort wird zum Beispiel von einem Hasen und einem Spatz gesprochen, die Kinder haben aber diese Tiere nie gesehen. Oder es wird das zarte Moos in einem dichten Nadelwald beschrieben, sie kennen aber weder Nadelwald noch Moos.“Sammlung für die erste tschechische Schule
Nachdem dieses Missverständnis geklärt wurde, sollen die Auslandstschechen begeistert gewesen sein von der Schule mit einem tschechischen Lehrer. Die Schwierigkeiten erwiesen sich aber unerwartet groß. Etwa 3000 tschechische Familien lebten in einem Umkreis von etwa 100 Kilometer um die Stadt Presidencia Roque Sáenz Peňa verstreut auf den Baumwollplantagen. Die Reise in die Stadt dauerte zwei oder drei Tage, wenn der Weg überhaupt befahrbar war. Die Kinder täglich in die Schule zu bringen war also unmöglich. Kocourek und die Auslandstschechen fanden jedoch eine Lösung:„Wir kamen überein, dass das Schulproblem durch die Bereitstellung von drei Lehrern gelöst werden sollte. Zwei von ihnen sollten durch die ländlichen Regionen fahren, einer nördlich und einer südlich der Stadt. Die Kinder konnten so zumindest dreimal pro Woche an einem passenden Ort Unterricht erhalten. Der dritte Lehrer bliebe in Presidencia Roque Sáenz Peňa und würde ausschließlich die Kinder dort unterrichten. In allen Schulen wären Schüler genug, dazu könnten die Lehrer auch Kurse für Erwachsene anbieten. Schließlich organisierten meine Mitarbeiter und ich eine große Versammlung im Hotel Moravia. In einem voll besetzten Saal hörten die Landsleute aufmerksam meiner Rede zu und erinnerten sich dabei an ihre alte Heimat. Viele waren sogar den Tränen nahe. Danach standen zwei Männer auf und begannen Spenden zu sammeln. In nur einer Stunde lag im Hut die finanzielle Grundlage für die tschechoslowakische Schule.“
Wie Rudolf Kocourek in dem Radiobeitrag erläuterte, wurden umgerechnet insgesamt 40.000 tschechoslowakische Kronen gesammelt. Diese Summe reichte sowohl für den Bau eines Schulgebäudes, als auch für andere Notwendigkeiten. Die tschechoslowakische Regierung verpflichtete sich, die Lehrer nach Argentinien zu schicken und ihre Löhne zu bezahlen. Die Schule besteht bis heute, obwohl sie nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei 1939 nicht mehr von Prag aus unterstützt wurde. Als Hitler Böhmen und Mähren besetzte, flohen mehrere Hunderte Tschechen auch in die Region Presidencia Roque Sáenz Peňa. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachen dann praktisch alle Kontakte mit der Tschechoslowakei ab. Das kommunistische Regime unterstützte die Auslandstschechen nicht, außerdem waren in Argentinien in den 1950er Jahren alle ausländischen Schulen und Vereine verboten. Heutzutage bestehen in und um Presidencia Roque Sáenz Peňa wieder mehrere tschechische Vereine. Von den etwa 100.000 Bewohnern der Stadt haben immerhin noch etwa 4000 tschechische Wurzeln.