Auf die Achterjahre folgen die … Neunerjahre!

November 1989

Sie haben es in den zurückliegenden Monate bei uns immer wieder gehört: Die Achter-Jahre haben in der tschechischen oder tschechoslowakischen Geschichte eine große Bedeutung. Dies beginnt im Mittelalter, geht über die frühe Neuzeit mit beispielsweise dem Prager Fenstersturz aus dem Jahr 1618 und wird dann immer dichter in der neuesten Geschichte ab der Staatsgründung 1918. Was ist aber mit den Neuner-Jahren: Welche Bedeutung haben sie in der Landeshistorie?

November 1989
Im vergangenen Jahr wurde an allen Orten und sogar im Ausland an die Turbulenzen der tschechischen Geschichte im 20. Jahrhundert erinnert und gedacht. 1918 die Staatsgründung, 1938 das Münchner Abkommen mit der Abtrennung der Sudetengebiete, 1948 die kommunistische Machtergreifung und schließlich 1968 der Prager Frühling und seine Niederschlagung durch die Truppen des Warschauer Paktes, um nur die wichtigsten Daten zu nennen. Gerne wurde auch das Jahr 1988 in eine Reihe mit diesen Schicksalsjahren gestellt. Nach Auffassung von Historikern und Zeitzeugen war da bereits eine erste leichte Brise des Umschwungs in der kommunistischen Tschechoslowakei zu spüren. Doch der wahre Sturm, der die alten Machthaber umschmiss, der kam erst im November 1989 auf.

„Und nun spricht der Dichter Václav Havel“ – als dies vor 20 Jahren auf der Prager Letná-Fläche erklang, waren es bereits mehrere Hunderttausend Menschen, die sich in Prag öffentlich gegen das kommunistische Regime stellten. Und sie waren Zeugen eines der bedeutendsten Umbrüche in der tschechischen beziehungsweise gemeinsamen tschechoslowakischen Geschichte. Trotz des kurzen zeitlichen Abstandes ist klar: 1989 ist das wichtigste Neuner-Jahr in der tschechischen Geschichte.

Doch was war noch? In der Weltgeschichte gibt es allein im 20. Jahrhundert Umbrüche en masse. 1919 beendet der Vertrag von Versailles den Ersten Weltkrieg, 1929 bricht mit dem Schwarzen Freitag die Weltwirtschaftskrise an, 1949 wird die Nato gegründet und 1969 landet der erste Mensch auf dem Mond. Und dann natürlich das Jahr 1939, also das Jahr, in dem Deutschland den Zweiten Weltkrieg beginnt.

15. März 1939
Auch für die Bevölkerung in der Tschechoslowakei ist es ein Trauma - vor allem, weil im März Hitler in Prag einmarschiert und das Protektorat Böhmen und Mähren errichtet. In der Slowakei entsteht zur gleichen Zeit der klerikal-faschistische Tiso-Staat. Die jüdischen Staatsangehörigen waren als erstes bedroht - so wie die Familie von Eva Mändl-Roubíčková. Sie schilderte vor kurzem bei einer Veranstaltung des Prager Literaturhauses deutschsprachiger Autoren, in welche Lage sie und ihre Familie damals gerieten:

„Nach der Besetzung im März ist es meinem Verlobten gelungen, nach England zu gehen. Er sagte, es werde vielleicht besser so sein, da er uns von draußen besser werde helfen können als von Prag aus. Nach verschiedenen Schwierigkeiten fand er für mich in England eine Stelle als Aupair. Doch ich war noch keine 18 Jahre alt und die englischen Gesetze verboten Jugendarbeit. Also ist daraus nichts geworden. Inzwischen brach der Krieg aus und mein Verlobter war in England. Seine ganze Familie, meine ganze Familie und ich, wir sind alle in Prag geblieben – mit den Folgen bis zum Konzentrationslager.“

Das Jahr 1939 ist also ein Jahr mit dramatischen Folgen, die jedoch ihren Anfang bereits im Achterjahr 1938 haben. Ähnlich verhält es sich mit dem Jahr 1969. Am 21. August 1968 war ja die Reformbewegung des Prager Frühlings durch die Warschauer Pakttruppen unter Führung der Sowjetunion niedergeschlagen worden. Was darauf folgte, nannten die kommunistischen Machthaber euphemistisch „Normalisierung“ – die Rückkehr zur Repression bezeichneten Husák und Co. also als Rückkehr zur Normalität. Wie tief dies die Bevölkerung der Tschechoslowakei getroffen hat, zeigte wohl am Dramatischsten die Selbstverbrennung von Jan Palach im Januar 1969. Der damalige Spiegel-Korrespondent in Prag, Christian Schmidt-Häuer, war Augenzeuge der Selbstverbrennung und beschrieb vor einigen Jahren gegenüber Radio Prag auch die Bedeutung dieses Ereignisses für die damalige Tschechoslowakei:

„Dieser Verzweiflungsakt von Jan Palach hat sich damals wie ein schwarzes Tuch über das ganze Land gelegt. Die Trauerfeier für Palach ein paar Tage später war einer der erschütternsten Momente in meinem Leben. Hunderttausende Menschen zogen durch diese besetzte Stadt Prag. Aber diese Trauerfeier war auch eine Totenfeier für den Reformversuch.“

Schaut man noch einmal etwas weiter zurück in die Geschichte, stößt man kaum mehr auf weitere Neunerjahre von Bedeutung für das Geschehen in den böhmischen und mährischen Ländern. Außer vor 600 Jahren: 1409 gab der böhmische König Wenzel IV. das so genannte Kuttenberger Dekret heraus. Es verschaffte den Böhmen an der noch jungen Karls-Universität in Prag eine bessere Vertretung als den Ausländern, welche vor allem Deutsche waren. So schreibt König Wenzel in dem Dekret unter anderem:

Das Kuttenberger Dekret
„Wir also, die wir als ungerecht und unangemessen erachten, dass vom Wohle der Bewohner, auf das diese zu Recht Anspruch haben, übermäßig Ausländer und Zugereiste schöpfen, und jene sich dann vom Ungenüge und Nachteile eingeengt fühlen, ordnen Ihnen Macht dieses Dekrets streng an, dass Sie ohne Widerstand und Verzögerung das böhmische Volk auf jegliche Weise zu drei Stimmen zulassen bei allen Beratungen, Gerichten, Prüfungen, Wahlen und allen anderen Verhandlungen, die an der Universität abgehalten werden.“

In Tschechien wird das Dekret heute häufig als Befreiungsschlag für die Böhmen angesehen. Nachfolgend verließen auch alle deutschen Studenten und Gelehrten die Universität und gründeten noch im selben Jahr die Hochschule in Leipzig. Auf der anderen Seite verlor die Karlsuniversität durch diesen personellen Aderlass auch an Bedeutung innerhalb Europas.

Noch ein weiterer Zeitabschnitt, nun aber bereits in der frühen Neuzeit, nämlich der Beginn des 17. Jahrhunderts ließe sich nennen. Damals tobten die konfessionellen Auseinandersetzungen in Europa zwischen Katholiken und Protestanten. 1609 bestätigte Kaiser Rudolf II. in zwei Majestätsbriefen die Religionsfreiheit für die Protestanten.

Die Majestätsbriefe sind lange Dokumente, aber nur von kurzer Wirkung. Einen dauerhaften Religionsfrieden bringen sie nicht. Ähnlich verhält sich es mit einem Dokument aus einem weiteren Neunerjahr: 1619 wurde die Confoederatio Bohemica geschlossen. Es war ein Bündnisvertrag der nichtkatholischen Stände der böhmischen Kronländer. Bereits ein Jahr später, nach der Niederlage der böhmischen Stände in der Schlacht am Weißen Berg, stieg erneut Kaiser Ferdinand II. auf seinen Thron und hob das Bündnis der Protestanten wieder auf.

Und das ist auch schon so ziemlich alles an interessanten Neunerjahren in der tschechischen Geschichte. Zum Vergleich: Das tschechische Historikerpaar Petr Čornej und Ivana Čornejová hat gleich 40 schicksalsträchtige Achterjahre gezählt. In den nächsten Monaten wird sich das historische Gedenken also an nur wenigen großen Ereignissen orientieren.

Autor: Till Janzer
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