Prager Frühling und Ukraine: Parallelen der Invasion durch russische Truppen 1968 und heute

Am Sonntag ist es 54 Jahre her, dass die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einrückten. Dies war der Anfang vom Ende des Prager Frühlings – einem mehrjährigen Prozess, mit dem hierzulande eine vorsichtige kulturelle und politische Öffnung versucht wurde, um einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen. Die Invasion forderte bis zum Ende des Jahres 1968 insgesamt 138 Menschenleben, die gesellschaftlichen und moralischen Schäden wurden durch die folgende Phase der Normalisierung noch weiter vertieft. Welche Lehren lassen sich für die Menschen in Tschechien daraus heute noch ziehen und welche Parallelen werden hierzulande zur aktuellen Kriegsführung Russlands in der Ukraine wahrgenommen?

Invasion in 1968,  Prag | Foto: Josef Koudelka,  Magnum Photos

Tomáš Halík, katholischer Priester und Publizist, studierte 1968 Theologie und Soziologie an der Prager Karlsuniversität. In den Reformjahren, die als Prager Frühling in die Geschichte eingegangen sind, war er führend in der Studentenbewegung aktiv und gründete unter anderem den ersten Debattierclub an seiner Fakultät. Am 21. August 1968 wollte er eigentlich von einem Ferienaufenthalt in England zurückkehren. Er habe schon auf dem Bahnhof gestanden, berichtet Halík in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks, als er vom Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in seiner Heimat erfuhr:

„Das war natürlich ein Schock, obwohl im Vorfeld schon spekuliert worden war, ob die Russen eingreifen. Eine vorangegangene Episode hatte damals einen großen psychologischen Effekt. Und zwar wandte sich eine hiesige Fernsehreporterin an einen sowjetischen Marschall mit der Frage, ob die Sowjetunion in der Tschechoslowakei intervenieren werde. Dieser war richtiggehend konsterniert, denn er war es nicht gewohnt, dass man ihm nicht abgesprochene Fragen stellte. Und er antwortete, dass dies eine Angelegenheit der Tschechen sei und Russland nicht eingreifen werde. Daraufhin haben alle aufgeatmet, da dies doch ein Marschall, also ein Minister zugesagt hatte. Nun ja, russischer Propaganda kann man niemals glauben.“

Tomáš Halík mit dem Comenius-Preis | Foto: Viktor Daněk,  Tschechischer Rundfunk

Die große Hoffnung, die die politische und kulturelle Öffnung bei den Menschen in der Tschechoslowakei ausgelöst hatte, wurde mit der Invasion jäh zerstört. In Moskau sei der Einmarsch allerdings schon seit April 1968 als eine mögliche Maßnahme vorbereitet worden, räumt Prokop Tomek vom Prager Institut für Militärgeschichte ein. Als es im August dann tatsächlich dazu kam, wurde der Eingriff von der Sowjetunion als brüderliche Hilfe bezeichnet…

„Dies war reine Propaganda. Es wurde behauptet, dass es eine Bedrohung von Seiten der Bundesrepublik Deutschland und der Nato gebe und dass eine Gegenrevolution stattfände. Den zugänglichen Dokumenten zufolge glaubten die Soldaten wirklich, dass sie hier gegen eine Konterbewegung kämpfen werden. Die Politiker gaben Desinformationen über eine angebliche Bedrohung an die Soldaten weiter. Und weil diese sich nicht so sehr für Politik interessierten, sondern nur ihren Auftrag erfüllten, nahmen sie es für bare Münze.“

Desinformationen für die Soldaten

Alexander Dubček mit Leonid Iljitsch Breschnew | Foto: Archiv des Tschechischen Fernsehens

Stattdessen wollte Leonid Breschnew aber den Satellitenstaat ČSSR wieder auf Linie bringen. Dabei hatte der Kreml-Führer den strategischen Vorteil, dass ihm die Ausstattung und Möglichkeiten der tschechoslowakischen Armee bestens bekannt waren. Trotzdem hätten sich die einheimischen Soldaten den Okkupanten entgegengestellt, fährt Tomek fort:

„Die Armee wehrte sich, so sehr sie eben konnte. Oft handelte es sich um eine passive Verteidigung, so etwa die Störung der Radioübertragung oder die Rückhaltung von Versorgungsmitteln für sowjetische Soldaten wie etwa Wasser. Es gab also durchaus Möglichkeiten des Widerstandes. Sehr wichtig war jedoch, dass sich die Bevölkerung eindeutig gegen die Okkupation positionierte und damit das Hauptargument widerlegte – dass nämlich eine Gegenrevolution im Gange sei und der anständige und loyale Teil der Bevölkerung geschützt werden müsse. Stattdessen wandten sich alle Menschen einheitlich gegen die Invasion.“

Tomáš Halík | Foto: che,  Wikipedia Commons,  CC BY-SA 2.5

Angesichts der Nachrichten aus Prag beschloss der 20-jährige Student Halík, zunächst im Exil in England zu bleiben. Dort setzte er sein Studium fort…

„Ich war dort sehr glücklich. Meinen Eltern schrieb ich von meinem Gefühl, zwanzig Jahre lang in der Fremde gelebt zu haben und nun endlich zu Hause zu sein. Dann kam ein Brief von einer Bekannten. Sie teilte mir mit, dass immer noch einiges möglich sei in der Tschechoslowakei, aber alle führenden Persönlichkeiten der Studentenbewegung emigriert seien. Auf die Aufforderung zurückzukommen war meine erste Reaktion, dass dies verrückt wäre und ich hier doch so glücklich sei. Dann blitzte in mir aber die Frage auf, wozu ich denn auf der Welt bin – damit es mir gut gehe oder damit ich tue, was richtig ist? Die ganze Nacht habe ich gebetet und mit mir gekämpft. Am Morgen entschied ich mich dann für die Rückkehr.“

Nach Weihnachten 1968 traf Halík wieder in Prag ein. Damals habe er bereits die beginnenden gesellschaftlichen Folgen der Okkupation wahrgenommen, so der Theologe:

„Eines ist leider für Tschechien und unser Wesen typisch: Dramatische Ereignisse bewältigen wir sehr gut, sei es ein Hochwasser, die russische Okkupation oder auch die bewegenden Momente 1989. In einem solchen Moment ist unsere Gesellschaft vereint und mutig, sie reagiert mit Humor. Dies hält aber leider nie lange an. Ich habe schon Angst davor, dass die heutige riesige Solidarität mit den Ukrainern bald von einigen Menschen untergraben und angegriffen wird. Um an der moralischen Front fest und einheitlich zu stehen, braucht es eine gewisse Kraft und Heldenhaftigkeit. Beides begann damals also schon zu bröckeln, und darauf reagierte Jan Palach mit seinem Opfer. Er wollte die Gesellschaft aufwecken.“

Zersetzung der Gesellschaft

Jan Palachs Mutter Libuše Palachová  (Mitte) | Foto: Archiv bezpečnostních složek

Der 20-jährige Student Jan Palach zündete sich am 16. Januar 1969 auf dem Wenzelsplatz aus Protest gegen die Okkupation selbst an und erlag drei Tage später seinen Verletzungen. Die Totenfeier im Zentrum Prags wurde von mehreren Zehntausenden Menschen besucht und war eine stumme Massendemonstration gegen die Besatzer. Tomáš Halík war einer der Mitorganisatoren und trug beim Trauermarsch Palachs Totenmaske. Dessen Selbstverbrennung sei ihm in den folgenden 20 Jahren immer eine Mahnung gewesen, den geistlichen Widerstand gegen das kommunistische Regime nicht aufzugeben, betont der Priester:

„Die Normalisierung ging Schritt für Schritt voran, und auf schreckliche Weise wurde die moralische Integrität unserer Gesellschaft beschädigt. Es kam zu einem ungeschriebenen Pakt: Wenn sich die Leute passiv verhalten und sich nicht für Politik interessieren, dann ermöglicht ihnen das Regime ein recht bequemes Leben und sorgt für die grundlegende soziale Absicherung. Jene Menschen, denen ein lebendiges Kulturleben nichts sagte, richteten sich also in ihren Wochenendhäuschen ein und arrangierten sich mit der Lage. Es wurde leider zur typisch tschechischen Haltung, sich ins Private zurückzuziehen und nur leise unter der Bettdecke zu schimpfen. Leute, die sich ab und zu am Volkseigentum bedienten, wurden wie Robin Hood gesehen, als ob sie mit dieser Art von Widerstand den Reichen etwas nehmen und es den Armen geben würden. Dies alles führte zur totalen Zersetzung, die Gesellschaft unterstützte diese blinden Passagiere. Die Zahl der aktiven Kollaborateure war zwar nicht allzu groß, aber das Regime konnte sich auf die passive Mehrheit stützen.“

Genau hierin sieht Historiker Tomek ein großes Versäumnis, das noch heute als eine Lehre aus der Zeit der Okkupation gelten könne:

„Viele von den Reformen des Prager Frühlings hätten erhalten werden können, wenn die Politiker und vor allem die Bevölkerung darauf bestanden hätten. Wenn sie sich nicht hätten demoralisieren und ihre Grundsätze nehmen lassen. Auch heute haben die Leute viele Bedenken. Es wäre aber angebracht, als Nation und als Bürger mehr an sich zu glauben.“

Illustrationsfoto: ELG21,  Pixabay,  Pixabay License

Einen direkten Bogen in die Gegenwart spannt auch Theologe Halík. Er zieht den Vergleich des Truppeneinmarschs 1968 mit der Invasion Russlands in die Ukraine:

„Die damalige sowjetische Propaganda nutzte genau die gleichen Argumente wie Putin heute. Einer seiner Ideologen hat erst vor kurzem wiederholt, dass 1968 in der Tschechoslowakei ein faschistischer Umsturz und auch die Intervention von Seiten Westdeutschlands gedroht hätten. Darauf waren die Soldaten des Warschauer Paktes damals tatsächlich vorbereitet, und sie hatten Angst davor. Dies entsprach aber absolut nicht der Wahrheit. Ganz ähnlich stellen die Russen es heute den eigenen Soldaten dar: dass es in der Ukraine Nazis und Faschisten gebe und dass die dortige Bevölkerung die Soldaten willkommen heißen werde. Dann kam es aber zum Schock für sie.“

Russland nutzte 1968 gleiche Propaganda wie heute

Foto: Tschechisches Fernsehen

In der Einschätzung der aktuellen Kriegspolitik Russlands spricht Halík von einem Genozid an der Ukraine. Die nationale Identität der Menschen solle ausgelöscht und der Vorstellung eines großrussischen Reiches unterworfen werden, meint der Priester. Damit werde die Entwicklung der Ukraine in Richtung Freiheit und Pluralität gestoppt – ganz ähnlich, wie es 1968 mit der Niederschlagung des Prager Frühlings geschah:

„Dies lässt sich tatsächlich vergleichen. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied. 1968 war die Tschechoslowakei formal zwar eine eigenständige Republik. De facto aber war sie eine sowjetische Kolonie. Und so wurde sie auch in der Welt gesehen. Als Breschnew am Abend vor der Okkupation den amerikanischen Präsidenten Johnson anrief und den Einmarsch ankündigte, kam als Reaktion eine Anerkennung des Einflussgebietes. Damals war nicht zu erwarten, dass der Westen in irgendeiner Weise interveniert. Ebenso wenig konnte auf einen bewaffneten Widerstand im Land gehofft werden. Die Ukraine hingegen ist tatsächlich ein eigenständiger Staat, dessen territoriale Unantastbarkeit international garantiert war, auch von russischer Seite.“

Illustrativesfoto: Alexander Popelier,  stock.XCHNG

Es gebe in der Ukraine keine Interessenssphäre mehr, die Russland in legitimer Weise verteidigen könne, so Halík. Und damit sei die Invasion einzig eine grobe Aggression, die gegen alle Grundregeln des internationalen Rechts verstoße, findet der Priester.

Angesichts dieser Lage plädiert Halík weiter für ein hartes Vorgehen gegen Russland. Und auch für Militärhistoriker Prokop Tomek begründet sich diese Forderung schon mit den Ereignissen vom 21. August 1968:

„Eine wichtige Lehre daraus ist auch, dass mit einer feindlichen Großmacht, die sich auf inakzeptable Weise verhält und das Leben in einem Land sowie dessen Souveränität bedroht, keine Übereinkunft möglich ist. Auf ihren Druck muss wiederum mit Druck reagiert werden. Es sollte nicht davon ausgegangen werden, dass die Gegenseite durch ein vernünftiges und friedliches Vorgehen überzeugt werden kann. Dies ist zwar in Tschechien immer noch eine weit verbreitete Meinung. Aber in der Geschichte kam es mehrfach vor, dass wir vergebens auf eine Übereinkunft gehofft haben. Wir müssen aber an unseren Interessen und unseren Grundsätzen festhalten.“