Aufnahme gefunden: Havel kommentiert den Einmarsch 1968 im Radio

Václav Havel und Jan Tříska (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)

Am 21. August wurde in Tschechien an den Einmarsch von Truppen der Warschauer Paktstaaten in die Ex-Tschechoslowakei im Jahre 1968 gedacht. Im nordböhmischen Liberec / Reichenberg fand aus diesem Anlass eine besondere Gedenkstunde für die Opfer des Überfalls statt. Auf dem Zentralplatz der Stadt erklang eine historische Radioaufnahme mit der Stimme des ehemaligen Präsidenten Václav Havel. Vor 45 Jahren hatte er sich aus Liberec über den Äther des Tschechoslowakischen Rundfunks gemeldet. Das verloren geglaubte Tondokument wurde erst vor kurzem wiederentdeckt. Anfang August war es nach 45 Jahre auch erstmals wieder im Programm des Tschechischen Rundfunks zu hören. Tschechische Medien bezeichneten dies als „Radio-Entdeckung des Jahres“.

Foto: Dušan Neumann,  Wikimedia Commons Free Domain
In der Nacht auf den 21. August 1968 rollten die Panzer der Warschauer Paktstaaten auch durch das nordböhmische Liberec in der Nähe der Staatsgrenze zur damaligen DDR. Sie beendeten ein politisches Experiment in der Tschechoslowakei: die Reform des sozialistischen Staates, genannt „Prager Frühlung“, geleitet vom Generalsekretär der kommunistischen Partei, Alexander Dubček. Wie anderswo im Land gab es auch in Liberec Tote und Verletzte.

Im Programm des regionalen Radiosenders Liberec meldete sich ein Reporter vom dortigen Rathaus, wo es zu blutigen Konflikten mit den Besatzern kam. Es wurden 40 Verletzte gemeldet, von denen neun gestorben sind.

Bisher sind nur wenige Tondokumente über die Lage in Liberec gefunden worden, zum Beispiel über das Begräbnis eines der ersten Opfer der Okkupation. Nach fast einem halben Jahrhundert erfolgloser Suche im Rundfunkarchiv glaubte kaum noch jemand an die Chance, etwas „Beweiskräftigeres“ finden zu können. Und doch ist es passiert. Der in Liberec lebende Zeitzeuge der Ereignisse von ´68, Vladimír Beran, bot über seinen Sohn dem Rundfunk zwei alte Tonbänder der Marke Agfa an. Damit begann eine spannende und in gewissem Sinne auch kuriose Entdeckungsgeschichte. An ihrem Anfang erzählte Beran Senior, unter welchen Umständen er nur kurz nach der Besetzung seiner Stadt durch die Sowjettruppen das laufende Radioprogramm mitschnitt:

„Ich dachte mir, wir werden uns endlich einmal verteidigen. Innerlich war ich darauf eingestellt. Doch als wir, ich und weitere Menschen, in unsere Autos gestiegen waren, sprach uns ein alter Polizist an. Er sagte: ´Macht keine Dummheiten, es hat doch keinen Sinn, in Liberec sind schon Menschen erschossen worden.´ Daraufhin kaufte ich mir eine Schachtel mit kubanischen Zigaretten, setzte mich auf die Treppe vor dem Theater und rauchte. Nach zwei Zigaretten verfiel ich in eine gewisse Apathie, ging nach Hause, legte mich ins Bett und stellte mein Tonbandgerät auf Aufnahme des Radioprogramms ein. Ich blieb zwei Tage im Bett und wechselte nur das Tonband.“

Miloslav Turek  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Es sei schon immer seine Vorliebe gewesen, alles Mögliche mitzuschneiden und zu archivieren, sagt Beran. Im Rundfunkarchiv sind seine Aufnahmen natürlich nicht der erste „Fund“ aus dem Jahr 1968. Miloslav Turek ist Tonmeister des Tschechischen Rundfunks:

„Von Zeit zu Zeit bringt oder schickt uns jemand eine mehr oder weniger bedeutende Tonbandaufnahme. Zu den wichtigsten gehören Mitschnitte aus dem Jahr 1968. In der Regel handelt es sich aber um einen Mix von Aufnahmen. Die Menschen haben das Radioprogramm leider nicht als Ganzes aufgezeichnet, sondern nur einige Teile, die aus ihrer Sicht interessant waren. So kommt es oft vor, dass auf einer Spur Mitschnitte von verschiedenen Tagen zu finden sind. Ihre Programme strahlten damals auch regionale Sender aus und viele Zuhörer schalteten des Öfteren vom gesamtstaatlichen auf ein bevorzugtes Regionalprogramm um. In diesen Fällen ist es dann schwer, die gesamte Aufnahme genau einzuordnen.“

Derartige Tonbandaufnahmen nennt Turek „einen Dschungel“. Im Fall der Aufnahmen von Vladimír Beran war es allerdings trotz ihrer Gesamtlaufzeit von 36 Stunden anders. Ihre Digitalisierung dauerte ungefähr zwei Wochen, und am Ende konnte sich der erfahrene Tontechniker freuen:

„So etwas habe ich noch nie gehört. Es ist eine Aufzeichnung mit Programmen aus Nordböhmen, konkret von den Sendern Ústí nad Labem (Aussig) und Liberec. Ein absolutes Unikat. In dem kontinuierlichen Mitschnitt wurden keinerlei Eingriffe gemacht. Darüber hinaus sind die Beiträge bekannter Persönlichkeiten zu hören, über die wir bisher nur etwas lesen oder mittels ihrer späteren Erinnerungen hören konnten.“

Jan Tříska im Studio des Tschechischen Rundfunks  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Mit den Persönlichkeiten sind der damals 31 Jahre alte Dramatiker Václav Havel gemeint und sein Freund Jan Tříska, Schauspieler am Prager Nationaltheater. Damit hat sich bestätigt, worauf man beim Rundfunk in Prag nach der Übernahme der besagten Tonbandmitschnitte gespannt gehofft hatte: Sie enthielten in der Tat die bislang vermissten Aufnahmen von Kommentaren, mit denen sich Havel und Tříska aktiv am regionalen Programm des Tschechoslowakischen Rundfunks in Liberec beteiligten.

Beide Künstler waren kurz vor dem 21. August auf Einladung befreundeter Galleristen nach Nordböhmen gekommen. Aus einem in einer Villa versteckten Studio kommentierte Havel jeden Tag in einer Live-Sendung bis zum 27. August die aktuelle Lage in der Stadt sowie das Verhalten der Besatzungstruppen. Von dort wandte er sich auch über den Äther an Günther Grass, Jean Paul Sartre und Eugen Ionesco. Er appellierte an die Intellektuellen, den Einmarsch in die ČSSR zu verurteilen. Die Texte seiner Kommentare verlas Tříska. Hier eine Hörprobe:

„Was wir in diesen Stunden in der Tschechoslowakei erleben, ist eine sonderbare Art von Invasion. Vielleicht handelt es sich um einen der einmaligen Fälle, in dem Panzer und Maschinengewehre machtlos sind gegen Ideen und die ethische Stärke von Menschen. In der Tschechoslowakei befinden sich derzeit abertausende Panzer und abertausende bis an die Zähne bewaffnete Soldaten, denen immer weitere folgen. Obwohl die Okkupation schon 48 Stunden andauert und kein Verteidiger unserer Souveränität sich den Eindringlingen entgegengestellt hat, und sich wahrscheinlich auch nicht entgegenstellen konnte, hat diese Okkupation bisher keinen wesentlichen Erfolg verzeichnet. Unser Staatspräsident ist weder zurückgetreten noch hat er den legalen Charakter der Besatzung anerkannt. Das Parlament hat sie verurteilt und verhandelt weiter, einberufen wurde sogar der Parteitag der führenden politischen Partei. Kein Organ der Staatsverwaltung hat sich den Okkupanten zur Verfügung gestellt, die Druckereien drucken weiter die freie Presse, Aufrufe und Flugblätter und auch die Sender funktionieren frei. Am wichtigsten ist allerdings, dass unser Volk den Status dieser Okkupation nicht akzeptiert hat.“

Václav Havel | Foto: Tomáš Vodňanský,  Tschechischer Rundfunk
So ist es aber bekanntlich nicht lange geblieben. Václav Havel sah damals richtig voraus, dass der unglaubliche Zusammenhalt der Bevölkerung in den ersten Tagen nach dem 21. August bröckeln würde. Die führenden Politiker der Tschechoslowakei, unter ihnen das Symbol der Reformbewegung, Alexander Dubček, wurden wenig später nach Moskau verschleppt. Dazu Havel:

„Freunde, in kurzer Zeit werden in Eurer Umgebung wahrscheinlich weitere ´kleinere´ Kollaborateure auftauchen, vor allem auf kommunaler beziehungsweise auf Kreis- und Bezirksebene. Sie werden sagen, man müsse realistisch denken: Falls nicht sie die zuständigen Ämter bekleiden würden, kämen schlimmere Menschen aus den Reihen der Okkupanten, um die Posten zu übernehmen. Sie werden sich als Retter des Volkes präsentieren. Zeigt diesen Menschen Eure Verachtung, stoßt sie aus Eurer Gemeinschaft aus, verlangt ihre Strafverfolgung wegen Landesverrats! Denkt daran, dass diese Menschen die Internierung unserer legalen Staatsvertreter durch ihr Verhalten billigen, weil die Lebensgefahr unserer Politiker für sie bedeutungslos ist.“

Im Folgenden stellte sich Havel dann eindeutig hinter den Reformer Dubček:

„Dieses Land lässt sich nicht dadurch retten, dass Dubček geopfert wird. Die einzige Chance unseres Landes besteht im Gegenteil nur und allein in der bedingungslosen und konsequenten Unterstützung von Dubček. Mag sein, dass sich die Kollaborateure tarnen werden, indem sie sich auch zu ihm bekennen. Lasst Euch nicht durch ihre Worte täuschen und beurteilt ihre Taten. Wer ein Amt aus anderen Händen als aus jenen des Volkes durch reguläre Wahlen annimmt, ist ein Verräter Dubčeks und des Landes.“

Alexander Dubček  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Der Überfall auf die Tschechoslowakei wurde schon bald offiziell als „internationalistische Hilfeleistung der Bruderländer“ bezeichnet. Das Steuer der Staatsführung übernahmen von Moskau unterstützte, neue Machthaber, und langsam schlich sich unter dem Begriff „Normalisierung“ eine neostalinistische Politik ins Land ein. Der Besitz von Ton- beziehungsweise Bildmaterial über die Ereignisse des 21. August 1968 war schon bald verboten, dabei hatten viele Tschechen das turbulente Geschehen dokumentiert. Zunächst verschwanden die Unterlagen aus den offiziellen Archiven. Dann landeten aus Gründen der persönlichen Sicherheit viele Privataufnahmen in geheimen Verstecken, wo sie nicht selten dem Schimmel ausgeliefert waren, oder in Mülltonnen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die nach 45 Jahren aufgetauchten Tonbänder umso wertvoller.

Václav Havel hat sich übrigens bei verschiedenen Gelegenheiten an seine Tage in Liberec im August 1968 erinnert. Er zählte seinen dortigen Aufenthalt zu den dramatischsten Momenten seines Lebens. Sein Wunsch, etwas von seinen damaligen Rundfunk-Sendungen noch einmal zu hören, ist aber nicht mehr in Erfüllung gegangen.


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