Vor 20 Jahren begann der Abzug der Sowjetarmee aus der Tschechoslowakei
Im August 1968 hatten die Sowjets mit ihren Panzern die Reformbewegung des Prager Frühlings niedergewalzt. Die Sowjettruppen blieben danach in der Tschechoslowakei - übergangsweise, wie es hieß, als so genannte „Bruderhilfe“. Fast 23 Jahre lang „half“ dann der große Bruder Sowjetunion, ganz zum Unwillen all der kleinen Brüder in der Tschechoslowakei. Erst mit dem politischen Umbruch durch die Samtene Revolution wurde auch der Abzug der Sowjetarmee möglich. Dieser Truppenabzug begann vor 20 Jahren.
Ihre militärische Zentrale eröffneten die Sowjets im mittelböhmischen Städtchen Milovice. Die heute 85-jährige Vlasta Šulcová erinnert sich:
„Ihre Panzer verluden sie in Lysá nad Labem, der Bahnhof war deswegen allein ihnen vorbehalten. Danach sind sie in Dreierformationen immer vorbeigefahren. Man gewöhnte sich daran. Mal hatten wir Angst, mal nicht.“
Insgesamt 73.500 Militärs und 40.000 Angehörige aus der Sowjetunion wurden in der Tschechoslowakei stationiert. In Milovice entstand eine komplette sowjetische Kleinstadt mit Tausenden Wohnungen. Auch wenn gegenseitige Zuneigung in weiter Ferne lag, gab es ab und zu menschliche Momente. Vlasta Šulcová:
„An unserem Haus hatten sie eine Mauer eingerissen. Dann kamen wohl so drei Soldaten und besserten die Mauer wieder aus. Ich schmierte ihnen Brötchen, kochte Tee und lud sie ein. Als sie in die Wohnung kamen, haben sie nur so geschaut, alles hat sie überrascht. Ich hatte Angst, als ich sie einlud. Wäre ein Offizier gekommen, dann hätten sie bestraft werden können.“
Dann kam 1989 und die Samtene Revolution. Und damit auch der Wunsch, dass die Sowjettruppen so schnell wie möglich den tschechoslowakischen Boden verlassen. Eine der treibenden Kräfte wurde der Rockmusiker Michael Kocáb, der sich nun politisch engagierte und ein enger Vertrauter des angehenden Staatspräsidenten Václav Havel war:
„Unser erster Schritt war, dass wir eine Woche nach der Samtenen Revolution vom 17. November 1989 einen Brief des Bürgerforums an die sowjetische Botschaft übergaben. Den hatten wir zu fünft unterschrieben, an der Spitze natürlich Václav Havel. In dem Brief baten wir Gorbatschow darum, Verhandlungen über einen Abzug zu beginnen und den Vertrag über den zeitweiligen Aufenthalt offiziell zu annullieren. Das war der Durchbruch. Innerhalb von einer Woche oder zehn Tagen kam die Antwort, dass Gorbatschow die Verhandlungen unterstützt. Damals haben wir uns gesagt: Das scheint wirklich zu funktionieren, vielleicht werden wir nach 50 Jahren endlich wieder frei, wenn man die deutsche Besatzung unter Hitler hinzurechnet.“
Die erste nachkommunistische Regierung in Prag nahm gleich nach ihrer Vereidigung die Gespräche über den Abzug auf. Außenminister Dienstbier besuchte dazu seinen sowjetischen Amtskollegen:
„In Moskau sagte ich Schewardnadse ohne Umschweife, dass wir zuerst den Abzug der Sowjettruppen aushandeln müssen. Schewardnadse verstand dies, aber all die Bürokraten, die dort saßen, machten große Augen, was sich dieser Mensch aus dem Satellitenstaat da erlaubt. Nach und nach stellte sich als größtes Problem heraus, dass sie nicht wussten, wo sie die Soldaten unterbringen können.“Über die Hälfte der Soldatenfamilien hatte kein Zuhause in der Sowjetunion. Während Deutschland aus diesem Grund Häuser in Russland baute, fiel dieses Thema beim Truppenabzug aus der Tschechoslowakei unter den Tisch. Zwar war die Lieferung von Fertighäusern erwogen worden, aber dies ging unter angesichts des engen Zeitfensters, das die Regierung in Prag für den Abzug setzte:
„Es kam dann zu dem Kompromiss, dass die Kampfeinheiten bis zum 30. Juni 1990 die Tschechoslowakei verlassen und der Rest spätestens ein Jahr später. Damit war der Vertrag fertig.“
Dienstbier und Schewardnadse unterzeichneten den Vertrag am 26. Februar 1990. Doch immer wieder kam es zu Störfeuern von der Moskauer Nomenklatura. Michael Kocáb war nach seiner Wahl in das tschechoslowakische Abgeordnetenhaus im Dezember 1989 zum Vorsitzenden der parlamentarischen Kommission für den Abzug der Sowjettruppen bestimmt worden. Er erzählt:„Mit den Falken aus dem Kreml haben wir uns zweimal getroffen. Einmal kamen sie hier ins Land und bestellten uns zu Gesprächen in die sowjetische Botschaft. Da haben sie uns ziemlich arrogant zusammengestaucht. Sie haben sich gegen den Abzug als solchen gestemmt und gegen die Schritte von Michail Gorbatschow. Sie sagten: Entweder stoppen wir das oder für den Abzug müssten fünf Jahre Zeit gewährt werden.“
„Was sie in der kurzen Zeit beseitigen konnten, das haben sie weggeschafft. Doch viele Flächen blieben verseucht mit ölhaltigen Stoffen und Chemikalien. Die Beseitigung der Altlasten hat noch bis vor kurzem angedauert.“
Der tschechische Staat bezifferte die Schäden auf seinem Boden auf sechs Milliarden Kronen, das entspricht heute 230 Millionen Euro. Insgesamt 60 der 110 von der Sowjetarmee genutzten Orte mussten ökologisch saniert werden.
Abgesehen von den Problemen beim Abzug der Truppen gab es auch durchaus komische Momente. Kocáb erinnert sich noch heute mit einem Schmunzeln an einen solchen:
„Von irgendwoher kam die Forderung auf, dass wir uns von den sowjetischen Soldaten verabschieden und ihnen Geschenktüten mit Orangen überreichen sollten. Wir haben dann in der parlamentarischen Kommission beraten, ob wir ihnen für die 20 Jahre Okkupation auch noch Orangen schenken sollen. Ich war damals dagegen.“
Der letzte Transportzug mit sowjetischen Soldaten verließ die Tschechoslowakei sogar einige Tage früher als geplant: am 21. Juni 1991.