Auschwitz überlebt: Buch über Lisa Miková

Lisa Miková (Foto: Till Janzer)

Die Menschen, die die Gräuel der Nazizeit überlebt haben, werden immer älter. Bald wird man von ihrem Leid nur noch aus zweiter Hand etwas erfahren können. Auch deswegen hat der Journalist und Historiker Werner Imhof nun ein Buch geschrieben. Im Mittelpunkt stehen die Berichte der Tschechin Lisa Miková. Sie war unter anderem in Terezín / Theresienstadt und Auschwitz. Vergangene Woche hat Imhof den Band in Prag vorgestellt.

Lisa Miková  (Foto: Till Janzer)
Das jüdische Kulturzentrum und Pflegeheim Hagibor. Es ist eine kleine Lesung, auch Lisa Miková ist da – eine 96-jährige Dame, mittlerweile im Rollstuhl. Um ihre Geschichte dreht sich das Buch, das Werner Imhof geschrieben hat. Der Journalist und Historiker trägt unter anderem eine Passage vor, in der es um Ereignisse gegen Ende des Jahres 1938 geht. Hitler hat bereits die Sudetengebiete in der Tschechoslowakei besetzt. Auch in der Familie Lichtenstern, so der Mädchenname von Lisa Miková, herrscht Angst. Einige Juden sind schon geflohen. Die Lichtensterns möchten ihre Tochter ebenfalls in Sicherheit bringen. Sie schicken die 16-jährige Lisa mit einer Freundin zusammen zu einer Cousine des Vaters nach Zagreb. Imhof schildert die Sache in seinem Buch so:

„Lisa hielt es nicht aus ohne die Eltern. Sie wechselten Briefe, und Lisa erfand einen Brief der Eltern, in dem diese angeblich mitteilten, die Kriegsgefahr habe sich verringert und sie könne heimkehren. Die Cousine wollte diesen Brief sehen, aber Lisa sagte ihr, er sei auf Tschechisch geschrieben und das verstehe sie doch nicht. Unterdessen hatte der Vater, Geschäftskontakte nutzend, organisiert, dass Lisa mit einem Transportflugzeug nach Schottland gebracht werden könnte. Aber sie war schon auf dem Rückweg. Zu Hause angekommen, bekam sie von ihrem Vater zum ersten Mal eine Ohrfeige. Danach waren alle Fluchtwege geschlossen.“

Hamburger Kaserne,  in der Lisa mit ihrer Mutter untergebracht war  (Foto: Petr1888,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0)
Später wirft sich Lisa Miková immer wieder vor, dass sie damals nicht geflohen ist. Wie die meisten Juden in Europa, wird auch ihre Familie von den Deutschen in Lager verschleppt. Zunächst kommen die Lichtensterns ins KZ und Ghetto Theresienstadt, später werden beide Eltern in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Lisa, die zu jener Zeit bereits mit František Mika verheiratet ist, überlebt die KZ und Vernichtungslager – und ihr Mann ebenfalls.

Kleine Geschichten, die viel sagen

Werner Imhof schildert das auf 112 Seiten. In dem schmalen Band wechseln sich die Erläuterungen und Nacherzählungen des Autors mit wörtlichen Zitaten von Lisa Miková ab. Imhof lässt zudem weitere Holocaust-Überlebende zu Wort kommen. Die hat der Historiker zwischen 2002 und 2017 kennengelernt, als er bei der Brücke/Most-Stiftung Zeitzeugengespräche betreute.

Werner Imhof  (Foto: Till Janzer)
„Bevor ich das Buch angegangen bin, habe ich mit Lisa Miková kurz darüber gesprochen. Das war aber eher im theoretischen Bereich. Ich wollte nicht ihr Ghostwriter für eine Autobiografie sein, weil ich in 15 Jahren intensiver Beschäftigung mit den Zeitzeugen so viele Geschichten gehört habe, bei denen selbst kleine Begebenheiten viel über die Historie sagen. Ich erwähne in dem Buch die Geschichte, die mir Josef Salomonovič einmal erzählt hat“, so Imhof.

Der Genannte sprach mit einem Berufskollegen über dessen Einsatz als Wachmann im KZ Stutthof. Aus genau diesem Konzentrationslager war die Familie Salomonovič auf einen Todesmarsch geschickt worden. Zwar überlebten die Mutter sowie Josef und sein Bruder, der Vater aber wurde durch eine Giftspritze umgebracht. Dazu Werner Imhof:

„Josef Salomonovič traf um das Jahr 2002 diesen ehemaligen Wärter. Der brachte das auf die Formel: Man habe dort keine Menschen bewacht, da seien keine Menschen gewesen, sondern nur Juden. Solche Begebenheit sagen manchmal mehr über den Holocaust als ganze Bücher oder ganze Filme.“

Foto: Verlag Tredition
Mit seinem neuen Band wendet sich der Autor auch gegen „die Holocaust-Leugner und Unverbesserlichen wie den AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland“, wie er an einer Stelle schreibt. Deswegen schildert Imhof die tatsächlichen Lebensumstände in den Lagern, die von den Deutschen nur zu einem Ziel angelegt waren: Menschen zu vernichten. Das bezieht sich auch auf das KZ und Ghetto Theresienstadt, das von der NS-Propaganda zum beschaulichen Erholungsort verklärt wurde.

„Zu Theresienstadt reicht eine Zahl, die deprimierend und vernichtend ist: Von 15.000 Kindern und Jugendlichen, die dort waren, haben 200 überlebt“, sagt Imhof.

Die meisten der damals Minderjährigen wurden aus der Garnisonsstadt an der Eger in die Vernichtungslager deportiert. Das galt auch für Lisa Miková. Nach zweieinhalb Jahren in Theresienstadt kam sie im September 1944 in den Transport nach Auschwitz. Tatsächlich meldete sie sich freiwillig, weil ihr Mann einige Tage zuvor bereits dorthin verschleppt worden war. Was sie dort erwarten würde, davon hatte sie keine Ahnung. So heißt es in ihrem Bericht darüber im Buch:

„Endlich kamen wir in der Nacht auf einem freien Platz an – ein großer Platz, der von Scheinwerfern beleuchtet war. Männer liefen hin und her in gestreiften Anzügen wie Pyjamas, so sahen sie aus, und sie hatten kahlgeschorene Köpfe und flache, auch gestreifte Kappen auf den Köpfen. SS stand dort und Hunde. In der Ferne sahen wir hohe Schlote, die rauchten, und wir dachten: Aha, das sind die Fabriken, in denen wir wahrscheinlich arbeiten werden. Von Gaskammern und Krematorien hatten wir damals noch nichts gehört.“

Vernichtungslager und Sklavenarbeit

Foto: Verlag Tredition
Lisa Miková wird nicht in die Gaskammern geschickt, sie überlebt auch die Seuchen, die in Auschwitz wüten. Stattdessen wird sie in eine Rüstungsfabrik gebracht – nach Freiberg in Sachsen. Dort zwingt man die junge Frau zur Sklavenarbeit. Kurz vor Kriegsende lädt die SS sie und die anderen Arbeiterinnen in einen Zug, es ist eine Todesfahrt. In einem offenen Viehwaggon werden sie 14 Tage lang von hier nach dort verschoben. Einmal am Tag müssen die jüdischen Häftlinge die Toten aus dem Wagen auf die Gleise schmeißen. Zum Schluss hält der Zug im KZ Mauthausen. Dort werden die abgemagerten Gefangenen endlich von amerikanischen Truppen befreit.

Warum hat Werner Imhof gerade die Geschichte der Lisa Miková in den Mittelpunkt des Buches gestellt?

„Sie ist aus meiner Sicht etwas Besonderes, weil sie die Älteste ist von allen noch Lebenden, die ich kenne. Sie hat das alles nicht als kleines Kind erlebt, sondern ist zu ihrem 20. Geburtstag nach Theresienstadt gekommen. Sie war eine erwachsene Frau, die sich bewusst an die Ereignisse erinnert. Einzigartig ist zudem, dass Lisa praktisch druckreif spricht.“

Lisa vor dem Krieg  (Foto: Verlag Tredition)
Zudem habe er Sorge, dass solche Geschichten über den Holocaust in Vergessenheit geraten könnten, sagt der Autor. Denn Lisa Miková unterscheidet sich in einem Punkt von den gut 30 anderen Holocaust-Überlebenden, die Imhof kennengelernt hat:

„Sie hat im Unterschied zu anderen selbst keine Autobiografie geschrieben. Ich möchte einfach, dass diese Geschichten erhalten bleiben, dass man auch noch in hundert Jahren etwas findet, wenn man nach dem Namen Lisa Miková sucht. Zunächst sind die Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden in den Schulen viel wertvoller, aber in hundert Jahren wird das sicher nicht mehr möglich sein.“

Autor: Till Janzer
schlüsselwort:
abspielen