Begegnung nach „nur“ 45 Jahren: Wolf Biermann und Eva Kondrysová in Prag

Wolf Biermann und Eva Kondrysová

Es gibt Geschichten, die so fantastisch sind, wie man sie sich nicht ausdenken könnte: Geschichten wie die vom deutschen Liedermacher Wolf Biermann und der tschechischen Redakteurin Eva Kondrysová. Sie beginnt mit einem Treffen im Jahr 1964 in Prag. Und sie endet mit einer außergewöhnlichen Begegnung 45 Jahre später. Dazwischen liegen die unnachgiebigen Jahre kommunistischer Herrschaft in Ostdeutschland und in der Tschechoslowakei, der unerwartete Mauerfall und die Samtene Revolution. Und diejenigen, die es erlebt, erlitten und erstritten haben, treffen sich wieder - sie knüpfen dort an, wo sie gewaltsam unterbrochen wurden: bei der Poesie.

Die Geschichte beginnt 1953. Wolf Biermann geht mit 16 Jahren von Hamburg nach Ostberlin. Er denkt an seinen jüdischen Vater, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde und will im Theater von Bertold Brecht singen und protestieren. Doch seine Protestlieder missfallen den kommunistischen Machthabern. Biermann hat Anfang der 60er Jahre viel zu viel Erfolg mit seinen Liedern und satirischen Texten. Darum erteilt ihm die kommunistische Führung Auftrittsverbot. Kurz davor, im Sommer 1964, reist er mit der Gitarre über der Schulter nach Prag. Dort will er den bekannten Odeon-Verlag besuchen und seine Gedichte und Lieder vorstellen.

Eva Kondrysová
Im Odeon-Verlag arbeitet die talentierte Lektorin Eva Kondrysová. Die studierte Psychologin, Anglistin und Kennerin der deutschen Literatur, hatte zwei Jahre in den Vereinigten Staaten verbracht. Nach dem Studium denkt sie an ihren jüdischen Vater, der von Nationalsozialisten ermordet wurde, und kehrt in die Tschechoslowakei zurück. Sie will die zeitgenössische Literatur einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. So beginnt sie 1958 in Prag für die Zeitschrift „Světová literatura“ ( „Weltliteratur“), die im Odeon-Verlag erscheint, zu arbeiten. Sie wählt Texte aus, redigiert und übersetzt englische und deutsche Literatur - darunter Werke von Heinrich Böll, Allen Ginsberg oder John Steinbeck. Als Eva Kondrysová die Gedichte von Wolf Biermann liest, erkennt sie sein besonderes Talent. Das ist der Anfang einer außergewöhnlichen deutsch-tschechischen Freundschaft. Eva Kondrysová erinnert sich:

„Er kam hierher und wohnte bei uns etwa eine Woche. Mit ihm zusammen war ein junger deutscher Schriftsteller hier: Manfred Bieler. Der hatte im Prager Stadtbezirk Hanspaulka sogar eine Wohnung in einer Villa gemietet und dorthin seine Eltern eingeladen. Und als er seinen 30. Geburtstag feierte, an einem wunderschönen Sommertag, saßen wir alle zusammen auf der Terrasse der Villa. Und da kam es zu einer Situation, die charakteristisch für das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen in jener Zeit war. Ich habe ein höfliches Gespräch mit der Mutter von Manfred Bieler geführt und fragte sie, wie es ihr in Prag gefällt und ob sie hier zum ersten Mal ist. Und sie antwortete, dass ja, dass es hier schön ist und dass sie hier zum ersten Mal ist. Aber „Vati“, der Vater von Manfred, der sei hier schon einmal während des Krieges gewesen, „dienstlich“. Und während ich auf den alten Mann neben mir schaute und überlegte, ob er hier als Mörder oder Dieb gewesen sei, spielte Wolf auf der Gitarre.“

August 1968 in Prag
Das deutsch-tschechische Missverständnis entsteht an diesem Sommertag im Jahr 1964, weil Wolf Biermann nicht nur auf der Terrasse der Villa seines Freundes Manfred Bieler zu hören ist.

„Da beschwerte sich jemand aus dem Nachbargarten auf Tschechisch: Dass sich so kurz nach dem Krieg wieder Deutsche breit machen und ihre Lieder singen! Das hat außer mir sonst niemand verstanden. Die Deutschen dachten, es beschwert sich jemand wegen Ruhestörung. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ob ich den Nachbarn erklären soll, dass jener, der singt, seinen Vater im Konzentrationslager verloren hat und ganz bestimmt nicht als Soldat in Prag war. Ob ich Wolfgang sagen soll, er soll aufhören zu singen oder ob ich die Situation erklären soll“, erzählt Kondrysová.

Zu einem weiteren Treffen sollte es vorerst nicht kommen. Kurz darauf erhält Biermann Auftritts- und Publikationsverbot in der DDR. In der Tschechoslowakei allerdings können während des Prager Frühlings 1968 seine Texte erscheinen. Kurz vor der Niederschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei erscheinen die Lieder Wolf Biermanns in der Zeitschrift „Weltliteratur“. Seine Texte übersetzt ein weiterer tschechischer Freund Biermanns: der bekannte Liedermacher und Kabarettist Jiří Suchý. In dem Vorwort zur Ausgabe schreibt Suchý über Wolf Biermann:

„Er ist einer von denen, die sich schwerlich in die eine oder andere Kategorie einordnen lassen, und darum bereitet er den Verantwortlichen bestimmte Sorgen.“

Zu den Liedern, die in der tschechoslowakischen Zeitschrift „Weltliteratur“ abgedruckt wurden, gehörte die „Ballade auf den Dichter François Villon“. Was sie bedeutet, das erklärt Wolf Biermann auf seine ganz eigene Art mit der Gitarre in der Hand:

Wolf Biermann nimmt kein Blatt vor den Mund. Seine Lieder bringen damals die Wahrheit über die ostdeutsche Wirklichkeit ans Licht. Den kommunistischen Machthabern ist er deshalb ein Dorn im Auge. Poesie und Protest werden gewaltsam zum Schweigen gebracht. Zunächst erhält Biermann Ausreiseverbot, dann wird er im Jahr 1976 während eines Auftritts in Köln zwangsweise aus der DDR ausgewiesen, er bleibt im Westen. Mit der Entwicklung der Ereignisse wird es auch auf Jahre hinaus unmöglich, dass Biermann seine Freunde in der Tschechoslowakei wieder sieht:

„In der DDR durfte ich ja nirgendwohin fahren, auch nicht in die Tschechoslowakei. Ich wurde 1965 verboten und durfte nicht mehr in die Tschechoslowakei, nicht nach Polen, nirgendwohin fahren. Und als ich dann im Westen lebte, machte ich ja viele Konzerte überall in der Welt. Und meine Mutter Emma, eine Arbeiterfrau aus Hamburg, die sagte immer in dem Ton der Hamburger Sprache „Sach mal mein Jung, verstehn die dich da überhaupt?“ Dann hab ich immer gesagt „Na klar, verstehn die mich da – genauso gut wie in Deutschland: gar nich!“

Wolf Biermann und Eva Kondrysová
Auch für Eva Kondrysová brechen nach der Niederschlagung des Prager Frühlings harte Zeiten an. Es ist die Zeit der so genannten Normalisierung. In die Tschechoslowakei kehren stalinistische Methoden der Unterdrückung zurück. 1970 wird Eva Kondrysová gezwungen, ihren Arbeitsplatz bei der Redaktion der Zeitschrift „Weltliteratur“ zu verlassen:

„Die Leitung der Zeitschrift wurde von anderen Leuten übernommen mit der Begründung, man müsse sie politischer führen als bisher. Die Vergehen, die man uns vorwarf, waren absolut lächerlich.“

Wolf Bierman wird heimatlos, Eva Kondrysová sprachlos gemacht. Ein Ende dieser Lage ist jahrelang nicht in Sicht. Im Jahr 1989 gehen immer mehr Menschen in Ostdeutschland und der Tschechoslowakei auf die Straßen und fordern Freiheit und Demokratie. Der „Eiserne Vorhang“ beginnt sich zu heben. Als die Mauer in Deutschland fällt, fallen sich die Menschen in Ost und West glücklich in die Arme. In Prag bejubelt das Volk die Samtene Revolution. Alles kommt in Bewegung. Eva Kondrysová freut sich, dass die Zeitschrift „Weltliteratur“ neu herausgegeben wird. Wolf Biermanns Stimme erklingt endlich wieder in Ost- und Westdeutschland.

Allerdings sollte Wolf Biermann trotz der wieder gewonnen Freiheit so schnell dann doch nicht wieder nach Prag kommen. Es vergehen weitere 20 Jahre. Beim 19. Prager Schriftstellerfestival im Juni begegnen er und Eva Kondrysová sich wieder. Beide knüpfen dort an, wo sie vor 45 Jahren aufgehört hatten: bei der Poesie! Wolf Biermann erläutert Eva Kondrysová am Beispiel seines Liedes „Heimat“, was er all die Jahre empfunden hat und wie schwer es für ihn in dieser Zeit war:

In der Freundschaft mit Wolf Biermann – so mag man nach dieser Begegnung in Prag nach 45 Jahren hinzufügen – hat die Literatur über all das Grauen, das im vergangenen Jahrhundert verübt wurde, die Oberhand behalten.