Bier, Wein und Becherovka - Die Volksdroge Alkohol zwischen kultureller Identität und gesundheitlicher Gemeingefährdung
Alkohol, und vor allem Bier, scheint irgendwie ein fixer Bestandteil der tschechischen Identität zu sein. Dass dies in den verzerrten Erinnerungen mancher Kurzurlauber so ist, die ihren Pragbesuch vor allem mit exorbitantem Bierkonsum in Verbindung bringen, ist wohl nicht weiter verwunderlich. Doch auch in der tschechischen Literatur kommt dem Alkohol eine nicht unwesentliche Bedeutung zu - von anderen Kunstformen wie etwa der Volksmusik ganz zu schweigen. Andererseits aber gibt es in Tschechien, wie in vielen anderen Ländern, auch ganz konkrete Problem mit Alkohol. Etwa Alkoholismus unter Jugendlichen oder im Straßenverkehr. Von beiden Aspekten des Themas Alkohol handelt der nun folgende "Schauplatz" von Gerald Schubert:
"Man sagt, ich war in Prag. Aber ich kann mich nicht erinnern." Diesen Spruch gibt es - auf T-Shirts abgedruckt - tatsächlich. Illustriert ist er dort mit einem überdimensionalen Krug schäumenden Bieres. Wer die Schönheiten der tschechischen Hauptstadt kennt, der wird jenen unermesslichen Stolz auf den eigenen, überdies meist nur fiktiven Gedächtnisverlust nur schwerlich verstehen können. Doch kommen Gemeinplätze wie dieser - trotz der für das Land typischen Bierbrautradition - ohnehin nicht einmal in die Nähe irgendeiner Vorstellung von tschechischer Identität. Eher geht es dabei schon um die Globalisierung des Ballermanns und das seltsame Abfeiern kollektiven Stumpfsinns.
Doch kehren wir den Souvenirgeschäften in der Karlsgasse, in denen besagte T-Shirts neben denen mit der lapidaren Aufschrift "Franz Kafka" hängen, den Rücken zu, und gehen wir ein paar Schritte weiter in Richtung Altstädter Ring. Zur Linken finden wir hier das "Gasthaus zum Goldenen Tiger", in dem der 1997 verstorbene tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal beinahe allabendlich verkehrte. Und all jene, denen das Werk Hrabals ein wenig vertraut ist, die wissen, dass das Bier, der Alkohol, ja überhaupt der Rausch aus seinen Geschichten kaum wegzudenken sind. Nur, dass hier keine Rede ist von alles vergessen machender Betäubung. Auch nicht von Ekstase. Eher schon vom Alltag der ganz gewöhnlichen Wirtshausbesucher, deren Unterhaltung beim abendlichen Bier sich regelmäßig in philosophische Höhen aufschwingt - allerdings nur, um gleich darauf wieder ihre ganz gewöhnliche Alltäglichkeit zur Schau zu stellen. In der konsequenten Vereinigung der Gegensätze liegt vielleicht eines der besonderen Stilmittel Hrabals. Und wenn er in seinen Geschichten nach ausgedehnten abendlichen Spaziergängen mit seinem Hund wieder nach Hause kam zu seiner Frau, dann war nicht er es, der nach Alkohol stank, sondern der Hund, der nach Alkohol duftete.
"In Prag fließt statt Grundwasser Bier". So beschrieb Hrabal das, was seiner Meinung nach die Stadt am meisten prägte. Tatsächlich hat die Bierbrauerkunst in Böhmen eine lange Tradition. Es ist hier sogar ganz alltäglich, in Gasthäusern und Geschäften zwischen zehngrädigem und zwölfgrädigem Bier, zwischen "desitka" und "dvanactka" zu unterscheiden. Jeder hat so seine Vorlieben: Die einen schwören auf das zwölfgrädige Pilsner, andere wiederum lieben leichtere, zehngrädige Sorten. Und für wieder andere ist dies alles eine Frage der Tageszeit.
Neben dem Bier müssen hier aber wenigstens noch zwei andere andere Getränke Erwähnung finden: Zum einen ist dies der Kräuterschnaps "Becherovka", der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der westböhmischen Kurstadt Karlovy Vary / Karlsbad hergestellt wird und sich anhaltender Beliebtheit erfreut. Der Becherovka hat auch einen Spitznamen: Die dreizehnte Quelle. Denn die Anzahl der richtigen Heilquellen in Karlsbad beträgt natürlich zwölf. Und dann ist da auch noch der Wein, der in den meisten Teilen Böhmens zwar keine idealen Wachstumsbedingungen vorfindet, dafür aber vor allem in Ostmähren verwurzelt ist und dort das traditionelle Volksbrauchtum der Menschen stark beeinflusst hat. Dem von der Weinernte geprägten Jahreszyklus entsprechend finden dort vor allem im Spätherbst in vielen Dörfern und Städtchen Weinfeste statt, deren urtümlich-folkloristischer Charakter weit über die Grenzen Tschechiens hinaus bekannt ist.
Aus dem bisher gesagten scheint klar zu sein: Der Alkohol gehört hierzulande nicht nur zu einem festen Bestandteil der Alltags- und Festkultur, sondern ist, - man braucht nur an die Firmen Becherovka, Budweiser und Pilsner Urquell zu denken - auch ein beachtlicher Wirtschaftsfaktor. Die Kehrseite der Medaille: Wie überall anders auch, wo der Alkohol die Volksdroge Nummer eins ist, sind die Gesellschaft und die Politik gefordert, den gesundheitsschädlichen Auswirkungen des Missbrauchs möglichst effektiv entgegenzuwirken. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Eine Million Tschechen hat Probleme mit Alkohol. 300.000 davon sind in so hohem Maße von ihm abhängig, dass sie ärztliche Hilfe benötigen. Und besonders erschreckend: Mehr als 80 Prozent aller Elfjährigen haben bereits Erfahrung mit Alkohol, und unter fünfzehnjährigen Jugendlichen findet man fast gar keine wirklich abstinenten mehr. Insgesamt trinkt jeder Tscheche im Durchschnitt 10 Liter reinen Alkohol pro Jahr.
Das Gesundheitsministerium hat, durch jene Zahlen alarmiert, im November dieses Jahres ein Programm vorgestellt, mit dem man den Alkoholkonsum in Tschechien innerhalb von 15 Jahren auf die Hälfte reduzieren will. Das Hauptaugenmerk will man dabei, so Gesundheitsministerin Marie Souckova, zunächst auf Kinder und Jugendliche richten:
"Der Zugang zu Alkohol wird für Jugendliche etwa dadurch erschwert, dass es keine Automaten mehr geben wird, an denen man alkoholische Produkte kaufen kann."
Doch nicht nur bei Automaten will man durchgreifen, sondern auch bei Verkäufern aus Fleisch und Blut, die man mit verschärften Maßnahmen dazu bringen will, die ohnehin längst gültigen Gesetze über die Abgabe von Alkohol einzuhalten:
"Eine weitere Sache wird es sein, beim Verkauf von Alkohol das Gesetz bezüglich der Altersgrenze auch tatsächlich durchzusetzen. Das Gesetz also, demzufolge nur Personen über 18 Jahren berechtigt sind, Alkohol zu kaufen. Das betrifft Restaurantbetriebe, aber auch Beherbergungseinrichtungen, insbesondere solche zur Unterbringung von Kindern und Jugendlichen. Dort sollte es auf keinen Fall möglich sein, alkoholische Getränke zu kaufen."
Einstweilen hat das Regierungsprogramm bei Experten durchaus positive Resonanz. Jedoch nur dann, wenn den Worten auch Taten folgen. So meinte etwa der Primarius der Abteilung für Suchtkrankheiten des allgemeinen Fakultätskrankenhauses in Prag, Petr Popov:
"Ich begrüße dieses Projekt. Aber bis jetzt kann ich es nur als Proklamation wahrnehmen. Ich glaube, dass es Dinge enthält, die in der Realität durchführbar sind, aber es ist nötig, dies durch ein paar grundsätzliche ökonomische Maßnahmen zu unterstützen. Und es ist nötig, für diese Programme auch das notwendige Personal bereitzustellen. Davon aber wird in dem Programm leider gar nichts erwähnt."
Ein Detail am Rande: Präsident Vaclav Havel hat anlässlich des tschechischen Nationalfeiertages am 28. Oktober auf der Prager Burg einige Auszeichnungen für besondere Verdienste verliehen. Darunter auch dem bekannten Dozenten Jaroslav Skala, der seit Jahrzehnten gegen den Alkoholmissbrauch kämpft und auch eine sehr erfolgreiche Heilanstalt betreibt. Auf die Frage des Tschechischen Rundfunks, ob er denn die Auszeichnung mit einem Gläschen feiern werde, antwortete der Abstinenzpapst zwar entschieden verneinend. Doch am Ende scheint es sogar bei ihm irgendwie ein gewisses Augenzwinkern zu geben:
"Warum nicht? Aber es wird dort auch etwas alkoholfreies geben. Wissen Sie, ich bin eigentlich peinlich. Schon 51 seit Jahren lebe ich komplett abstinent. Ich und meine Kollegin, mit der ich schon seit langer Zeit zusammenarbeite, wir sind gemeinsam sogar 103 Jahre lang abstinent. Wir sind zwei kleine Monster. Aber im großen und ganzen überleben wir das gut."