Bilanz: Ein Jahr EU-Mitgliedschaft Tschechiens
Massenabwanderungen von arbeitswilligen Tschechen ins Ausland, astronomisch steigende Mieten und überteuerte Lebensmittel in der Tschechischen Republik: Diese und andere Warnungen wurden vor dem Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union kolportiert. Handelte es sich bei den Prophezeiungen um reine Schwarzmalerei oder sind sie doch zur bitteren Realität geworden? Anlässlich der einjährigen EU-Mitgliedschaft Tschechiens am 1. Mai 2005 ist es an der Zeit für eine Bilanz. Über den aktuellen Stand der Dinge hat sich Sandra Dudek informiert:
"Gemäß der im März durchgeführten Umfrage des Meinungsforschungszentrums CVVM stimmt die Mehrheit der tschechischen Bürger, also fast drei Viertel, der Mitgliedschaft der Tschechischen Republik in der Europäischen Union zu. Im Gegensatz dazu ist nur ein Viertel der Bürger nicht mit der EU-Mitgliedschaft einverstanden."
Mehr als 70 Prozent der tschechischen Bevölkerung stimmen ganz oder eher einer EU-Mitgliedschaft zu und sind damit einer Meinung mit den Einwohnern eines anderen neuen EU-Landes, den Ungarn. Noch positiver wird die EU-Mitgliedschaft in der Slowakei gesehen, wo sie über 80 Prozent der Bevölkerung willkommen heißen. Naturgemäß befürworten eher jüngere Menschen die Mitgliedschaft in der EU, aber die Umfrage in Tschechien kam, so Horáková vom Meinungsforschungsinstitut CVVM, auch zu einem durchaus überraschenden Ergebnis:
"Ihre Zustimmung zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union äußern oft junge Menschen, vor allem sehr junge Menschen im Alter von 15 bis 19 Jahren und Studenten, weiters selbstständig tätige Personen und Personen mit einem hohen Lebensniveau und, ziemlich überraschend, auch ODS-Wähler."
Die ODS, also die Demokratische Bürgerpartei, ist der politische Heimathafen des tschechischen Präsidenten Václav Klaus, einem bekennenden Europagegner, der nun auch die Bevölkerung gegen die EU-Verfassung zu mobilisieren versucht.Die steigende Zufriedenheit der tschechischen Bevölkerung mit der EU-Mitgliedschaft ist unter anderem damit zu erklären, dass sich die kolportierten Schreckensszenarien nicht bewahrheitet haben. So ist beispielsweise der erwartete Boom am Wohnungsmarkt ausgeblieben, der noch vor dem EU-Beitritt die Wohnungspreise vor allem in Prag stark in die Höhe getrieben hat. Dieser Trend aber hat nicht angedauert, die Immobilienpreise haben sich stabilisiert, teilweise sind sie sogar gefallen, wie Jaroslav Novotný, Präsident des Verbands der Immobilienmakler, erläutert:
"Ein geringer Preisrückgang ist bei den Wohnungen schlechteren Standards, wie den Plattenbauten zu verzeichnen, wo die Preise nach dem EU-Beitritt leicht gefallen sind. Gegenwärtig sind sie wieder ein bisschen mehr in Bewegung und mäßig angestiegen, aber sie haben nicht das Niveau erreicht, das sie vor dem EU-Beitritt hatten."Auch Preiserhöhungen im Bereich der Lebensmittel sind nicht in dem Ausmaß eingetreten wie dies viele Verbraucher befürchtet haben. Die starke Konkurrenz unter den Supermarktketten hält die Preise mehr oder weniger auf dem gleichen Niveau wie vor dem EU-Beitritt. Dazu David Marek, Analyst bei Patria Online:
"Im Grunde genommen hat die Verteuerung nur einige Waren betroffen, die vor allem durch die Preisbindung verursacht worden ist, die für die ganze Europäische Union gilt. Das gilt zum Beispiel für den oft genannten Zucker, auch einige Obstsorten wurden teurer, wie beispielsweise Bananen. Das gesamte Preisniveau aber hat sich durch die Europäische Union nicht verändert."Teurer sind auch so manche Importwaren geworden, vor allem jene, die durch den EU-Beitritt nun mit einem höheren Zoll belegt sind. Davon betroffen sind etwa aus Asien eingeführte Fahrräder und deren Ersatzmaterial - eine Preissteigerung, die sich bei einer fahrradliebenden Nation wie den Tschechen durchaus zu Buche schlägt. Insgesamt aber hat die tschechische Wirtschaft vom Beitritt zur Europäischen Union bisher stark profitiert: Im ersten Mitgliedsjahr ist der Export um knapp 24 Prozent angestiegen - und damit um mehr als das Doppelte als noch im Jahr zuvor. Allerdings konzentriert sich die Exportwirtschaft auf die Länder der Europäischen Union: Beinahe 90 Prozent macht der Exportanteil in den EU-Raum bereits aus und Experten warnen davor, dass diese große Abhängigkeit vom europäischen Markt tschechische Unternehmer mittelfristig in Schwierigkeiten bringen könne. Auch der Kapitalmarkt erfreut sich eines starken Wachstums: Der EU-Beitritt Tschechiens habe viele ausländische Investoren ins Land gelockt und damit zu einer bedeutenden Aufwertung tschechischer Aktien geführt, so der Generaldirektor der Prager Börse, Petr Koblic:
"Im vergangenen Jahr ist das Volumen, im Vergleich mit dem Jahr 2003, über 100 Prozent gestiegen und dieses Wachstum geht auch im Jahr 2005 weiter. Gerade letzte Woche ist eine Statistik herausgekommen, nach der wir im ersten Vierteljahr 2005 die größte mitteleuropäische Börse geworden sind. Beim direkten Handelsvolumen haben wir auch die Börse in Wien und in Warschau übertroffen."
Eine Berufsgruppe kann dem EU-Beitritt allerdings nur wenig abgewinnen: die Landwirte. Im Vergleich zu ihren Kollegen aus den alten EU-Staaten beträgt ihr Anteil an Subventionen lediglich 25 Prozent. Andererseits hat der europäische Markt auch im Agrarbereich neue Möglichkeiten eröffnet: So verkaufen beispielsweise die Milchproduzenten in Süd- und Westböhmen ihre Produkte zur Weiterverarbeitung an Bayern.
Gerade im Grenzbereich zu Österreich und Deutschland macht sich auch der so genannte "Arbeitstourismus" bemerkbar. So pendeln etwa tagtäglich Ärzte und Krankenschwestern über die Grenze zur Arbeit und verdienen dabei das Drei- bis Vierfache des heimischen Gehalts bei gleichbleibend niedrigen Lebenserhaltungskosten. Von einer Massenabwanderung, wie vor dem EU-Beitritt prophezeit, könne aber weder in diesem noch einem anderen Berufssektor gesprochen werden. Und das hat auch seine Gründe, wie Nadezda Horakova vom Meinungsforschungsinstitut CVVM ausführt:"Generell sind die Tschechen nicht unbedingt bereit, wegen der Arbeit ins Ausland zu übersiedeln oder überhaupt im Ausland zu arbeiten: Zwei Drittel der Tschechen haben überhaupt kein Interesse an einer Arbeit im Ausland, ungefähr 15 Prozent würden nur unter der Voraussetzung im Ausland arbeiten, wenn sie ein entsprechendes Angebot bekommen würden und die, die sich direkt eine Arbeit im Ausland suchen würden, machen nur 8 Prozent der tschechischen Bürger aus."
Die Prophezeiungen von früher haben ihren Schrecken verloren: Ein Jahr nach dem EU-Beitritt stehen die Tschechen der Mitgliedschaft ihres Landes deutlich gelassener gegenüber. Die allgemeine Wirtschaftslage gibt auch Anlass zu Optimismus, allein die EU-politische Seite bereitet den Tschechen Kopfzerbrechen. Ungklärt ist noch der Modus, wie die EU-Verfassung ratifiziert werden soll. Im Falle eines Referendums würden laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut CVVM derzeit knapp mehr als die Hälfte für die EU-Verfassung stimmen, obwohl die Mehrheit der tschechischen Bevölkerung offen zugibt, wenig oder gar nicht informiert zu sein.
Folgende Hinweise bringen Ihnen noch mehr Informationen über den Integrationsprozess Tschechiens in die Europäische Union:
www.integrace.cz - Integrace - Zeitschrift für europäische Studien und den Osterweiterungsprozess der Europäischen Union
www.euroskop.cz
www.evropska-unie.cz/eng/
www.euractiv.com - EU News, Policy Positions and EU Actors online
www.auswaertiges-amt.de - Auswärtiges Amt