In Böhmen geboren, in Österreich eine Legende

Matthias Sindelar (Foto: Archiv FIFA)

Matthias Sindelar ist ohne Frage der größte Star der österreichischen Fußballgeschichte. Geboren wurde er aber eigentlich in Böhmen als Matěj Šindelář.

Matthias Sindelar  (Foto: Public Domain)
60.000 Menschen sind am 3. April 1938 im Wiener Praterstadion. Für das österreichische Nationalteam ist dieser Auftritt gegen das Deutsche Reich ein Schicksalsspiel, denn danach soll es aufhören zu existieren. Geplant war eigentlich ein Remis, doch die Wundermannschaft schoss in der zweiten Halbzeit zwei Tore – es waren die Siegtreffer. Das erste fiel in der 62. Minute, erzielt von einem der größten Fußballstars jener Zeit – Matěj Sindelar, besser bekannt als Matthias Sindelar.

Tatsächlich war einer der bedeutendsten Fußballspieler Österreichs, auch wenn manche darüber die Nase rümpfen dürften, ursprünglich ein Tscheche. Geboren wurde Sindelar nämlich im Februar 1903 im böhmischen Kozlov / Koslau bei Jihlava / Iglau. Wo der kleine Schindi, wie er später in Wien liebevoll genannt wurde, genau herkam, weiß Vlastimil Svěrák. Er ist Chronist und Archivar des Dorfes:

„Geboren wurde Šindelář in einer Hütte in Kozlov. Es handelte sich um die Hütte einer Halbschwester seiner Mutter. Das war so Gang und Gäbe in jener Zeit.“

Eine typische Migrantenbiographie

Gedenktafel in Kozlov  (Foto: Jirr CC BY-SA 4.0,  Public Domain)
Lange hielt es die Šindelářs aber nicht in Kozlov. Bald zog die Familie nach Wien, konkret ins Arbeiterviertel Favoriten – die Eltern wurden zu sogenannten Ziegelböhmen. Man nimmt an, dass ein Teil der Familie bereits dort lebte, vermutlich ein Großvater Sindelars. Das sei eine typische Migrantengeschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts gewesen, meint der Publizist Petr Nosálek. Er hat sich mit dem Leben von Matthias Sindelar beschäftigt:

„Eigentlich war das symptomatisch für das damalige Österreich-Ungarn. Favoriten im zehnten Wiener Gemeindebezirk war zu jener Zeit ein Armenviertel. Dort zogen damals mehrere Zehntausend Menschen aus Böhmen, Mähren und Ungarn hin, wobei die Tschechen deutlich in der Überzahl waren. So wurde Wien dann nach Prag zur zweitgrößten tschechischsprachigen Stadt des Reiches.“

Petr Nosálek  (Foto: Khalil Baalbaki,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Der kleine Schindi, oder auch Motzl, wuchs danach aber deutschsprachig auf, aus Matěj wurde damals Matthias und aus Šindelář der bekannte Sindelar. Auch wenn seine Mutter bis zu ihrem Lebensende das Tschechische pflegte und mit großem Stolz böhmakelte, also Deutsch nur mit schwerem tschechischem Einschlag sprach. Auf jeden Fall hinderte das den jungen Matthias nicht, schon früh den Fußball für sich zu entdecken. Das war auch nicht schwer in den schmutzigen Gassen zwischen den dunklen Mietskasernen in Favoriten.

Seine ersten Schritte machte Schindi bei der Wiener Hertha, von der Jugendmannschaft bis zur A-Auswahl. Das lag in der Natur der Sache, denn die Hertha hatte ihr Stadion in der Quellenstraße. Dort wohnte der kleine Motzl und rannte vor seinem Haus seinem Fetzenlaberl, also einem Ball aus Stoffresten, hinterher. Zum Profi wurde Sindelar aber dann erst in einem anderen Wiener Klub, wie Petr Nosálek erzählt:

Matthias Sindelar  (Foto: Archiv FIFA)
„Da es in Österreich erst ab der Saison 1924/25 eine Profiliga gab, konnte Sindelar auch erst in dieser Zeit professionell Fußball spielen. Genau in diesem Jahr wechselte er von der Hertha zu Austria Wien.“

Vom Bolzplatz zu den Sternen

Von da an begann der steile Aufstieg des Papierenen Sindelar, wie man später wegen seiner schmächtigen Statur und seinem zierlichen Spielstiel zu ihm sagte. Nach erfolgreichen Auftritten auf internationalem Rasen rissen sich schon bald die Top-Vereine jener Zeit um den Stürmer, von der Prager Slavia bis hin zu Arsenal London. Sindelar blieb aber seiner Austria treu und ebenso der österreichischen Nationalmannschaft, anders als sein damaliger Teamkollege Josef „Pepi“ Bican. Im rot-weißen Nationaltrikot debütierte Sindelar 1926, und das ausgerechnet gegen eine ganz bestimmte Mannschaft:

„Das war das Team seiner alten Heimat, also der Tschechoslowakei. Das Spiel fand im September 1926 auf der Letná-Anhöhe in Prag statt, und die Österreicher siegten mit 2:1. Und dreimal darf man raten, wer das erste Tor geschossen hat: Es war Matej Sindelar! “

Bald sprach man von den Österreichern nur noch als Wundermannschaft. Das hatte auch einen guten Grund:

Wunderteam  (Foto: YouTube)
„Die Bezeichnung Wundermannschaft oder Wunderteam kam nicht von ungefähr. Das erste Mal machte sie in einem Spiel gegen Schottland am 16. Mai 1931 auf sich aufmerksam. Die Österreicher zerlegten die damals die auf dem Kontinent ungeschlagenen Schotten mit 5:0. Ab da begann dann eine Siegesserie der Mannschaft – gegen die Ungarn 8:0, gegen die Schweiz 8:2 oder gegen Frankreich 4:0. Sindelar führte das Team als Kapitän und schoss selbst viele Treffer.“

Ein Knick kam aber bei der Weltmeisterschaft in Italien, erst gegen die Gastgeber im Halbfinale und dann beim Spiel um Platz drei, gerade gegen die Rivalen aus Deutschland. Die Revanche folgte dann aber im Schicksalsjahr 1938.

Trotzige Österreicher beim Anschlussspiel

Matthias Sindelar  (rechts). Foto: YouTube
Am 3. April 1938 sollten die Nationalmannschaften des nationalsozialistischen Deutschlands und des frisch angeschlossenen Österreich vereint werden. Besiegelt sollte das bei einem Spiel im Wiener Praterstadion werden. Die Österreicher wollten diesem Drehbuch aber nicht folgen:

„Die Österreicher foppten ihre Gegner. Sie spielten ihnen absichtlich den Ball zu. Die Zuschauer mussten also begreifen, dass das ganze Spiel gestellt war. Es war ja bekannt, dass sich Hitler für dieses Anschlussspiel, nach dessen Abpfiff die Österreicher alle in die Reichsmannschaft wechseln sollten, ein Unentschieden wünschte.“

Die Wundermannschaft wollte sich damit aber nicht abfinden:

Carl Sesta
„Wie wir wissen, hat Sindelar dann das erste Tor geschossen. Der Wiener Tscheche Carl Sesta, beziehungsweise Karel Šesták, ließ dann den zweiten Treffer folgen. Am Ende siegte Österreich mit 2:0.“

Matthias Sindelar wollte sich mit seinen damals 35 Jahren eigentlich zur Ruhe setzen. Auf jeden Fall wollte er aber nichts mit Großdeutschland zu tun haben, er lehnte einen Platz im Nationalteam ab und auch einen Beitritt zur NSDAP. Leisten konnte er es sich das, denn er war mittlerweile auch erfolgreicher Geschäftsmann und eine Werbe-Ikone. Laut Nosálek blieb Sindelar aber immer auf dem Boden und der arme böhmische Arbeiterjunge aus Favoriten.

Ein Antifaschist mit braunen Flecken?

Nichtsdestotrotz, einen braunen Fleck bekam Sindelars Weste nach dem Anschluss Österreichs – er arisierte nämlich ein jüdisches Kaffeehaus. Laut Petr Nosálek muss das aber nicht unbedingt aus böser Absicht geschehen sein:

Ehrengrab von Matthias Sindelar  (Foto: Invisigoth67,  CC BY-SA 2.5)
„Sindelar war einer der wenigen Fußballspieler, die eine solche Gelegenheit nutzten. Er musste für das Kaffeehaus immerhin 20.000 Reichsmark zahlen, das war eine stattliche Summe. Eigentlich hoffte er, dass der Eigentümer Leopold Drill einen Teil des Geldes bekommt, denn Sindelar hatte den Kaffeehaus-Besitzer schon vorher gekannt. Dazu kam es aber nicht. Leopold Drill kam 1942 ins KZ Theresienstadt und starb dort ein Jahr später.“

Tatsächlich wusste man nach dem Zweiten Weltkrieg nicht recht, wie man Matthias Sindelar einordnen sollte. Ein Bild vom Stürmer der Wundermannschaft passte dem neuen Österreich aber ganz gut:

„Die Österreicher suchten nach dem Krieg irgendeinen mythischen Helden. Das sollte zur nationalen Identität beitragen, die sich ja schon in der Zwischenkriegszeit anfing zu entwickeln. Dazu boten sich Matěj Šindelář und das Wunderteam ganz gut an. So wurde Šindelář dann auch auf einmal zum Antifaschisten.“

Zum Mythos Sindelar trug auch der mysteriöse Tod des Fußballstars bei. Er wurde am 23. Januar 1939 leblos in seiner Wohnung gefunden. Neben ihm lag bewusstlos seine Geliebte Camilla Castagnola, eine italienisch-jüdische Edelkurtisane und Gulaschküchenbetreiberin. Doch auch sie verstarb wenig später im Krankenhaus. Was damals wirklich geschehen war, ist bis heute nicht eindeutig geklärt.

Die vergessene Legende

Vlastimil Svěrák  (Foto: Petra Emmerová,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
In Österreich ist Matthias Sindelar ohne Frage eine Legende. Was ist aber in Tschechien von Matěj Šindelář geblieben? Lange war er hierzulande unbekannt, erklärt Petr Nosálek:

„Das lag gar nicht so sehr am Eisernen Vorhang zu Zeiten des Kommunismus. Vielmehr gab es aus jener Zeit nur sehr wenige Fotos oder Film- und Tonaufnahmen von Fußballspielen und den Spielern. Dass Sindelar hierzulande in Vergessenheit geraten ist, liegt also eher an einem Mangel an historischen Dokumenten.“

In seinem Geburtsort Kozlov steht fast nichts mehr vom ehemaligen Wohnhaus des Fußballers. Die letzten Reste wurden in den 1990er Jahren abgerissen, nun befindet sich an der Stelle ein schmuckes Einfamilienhaus. Doch ganz tot ist die Erinnerung an den wohl größten Sohn des Dorfes nicht, wie Archivar Vlastimil Svěrák berichtet:

„Seit 1995 gibt es am Vereinsheim des hiesigen Fußballklubs eine kleine Gedenktafel. Sie wurde anlässlich des Spiels von Kozlov gegen das Altherrenteam von Slavia Prag aufgehängt. Enthüllt wurde die Tafel von Šindelářs Freund Josef Bican persönlich.“