Tschechoslowakischer Fußball: Masseneuphorie und Integration

Fußballspieler in Loučeň

In unserer Serie über tschechische Bücher, die Sie lesen müssen, haben wir Ihnen den Fußballroman „Klapperzahns Wunderelf“ von Eduard Bass vorgestellt. Herausgegeben wurde das Buch in einer neuen deutschen Übersetzung von Stefan Zwicker im Arco Verlag in Wuppertal. Der Sporthistoriker hat auch ein Nachwort zu dieser Geschichte für kleine und große Jungen geschrieben. Im folgenden Kapitel aus der tschechischen Geschichte bringen wir ein Gespräch mit Stefan Zwicker über die Bedeutung des Fußballs in der Ersten Tschechoslowakischen Republik.

Stefan Zwicker  (Foto: Archiv des Prager Literaturhauses)
Herr Zwicker, es gibt ja mehrere tschechische Fußball-Bücher aus den 1920er und 1930er Jahren. Welche Rolle spielte der Fußball in der Ersten Tschechoslowakischen Republik?

„Man kann sagen, dass der Fußball in der Ersten Republik absolut der Sport Nr. 1 war. Er fand ein sehr großes Interesse, teilweise mit viel höheren Zuschauerzahlen als vor dem Ersten Weltkrieg. Das hatte verschiedene Gründe. Einer der wichtigsten war wahrscheinlich die Einführung des Achtstundentags, der dazu führte, dass die Menschen auf einmal mehr Freizeit hatten und sich deswegen Vergnügungen wie dem Fußballsport widmen konnten. Das einerseits als Zuschauer, vor allem bei den großen Prager Clubs, aber auch in der sogenannten ,Provinz‘. Andererseits aber auch bei den Aktiven kam es zu einem großen Anstieg. Es wurden sehr viele neue Clubs gegründet. Außerdem war die Tschechoslowakei mit der Fußballhochburg Prag in der Zwischenkriegszeit eine wirkliche Großmacht in dem Sport. Sie gehörte zu den besten Nationen und auch die Nationalmannschaft war sehr erfolgreich. Der größte Erfolg war 1934 der Vizeweltmeistertitel. Das spiegelte sich natürlich auch in den Zuschauerzahlen wider. Bei Mitropa-Cup-Spielen beispielsweise – das war ein internationaler Pokal, ein Vorläufer der heutigen Champions League – gab es 40.000 Zuschauer. Ich arbeite zurzeit an einem Projekt der Universität Opava / Troppau mit, wo wir untersuchen, wie der Fußball zu einem Massensport wurde.“

Fußballspieler in Loučeň
Wo sind die Anfänge des Fußballs auf dem Gebiet der Tschechoslowakei zu suchen? In diesem Zusammenhang wird oft an ein Spiel auf Schloss Loučeň erinnert, stimmt das?

„Es gibt verschiedene Theorien, wo das erste Spiel stattfand. Auf Schloss Loučeň stellte Fürst Thurn-Taxis eine Elf aus seinen Bediensteten zusammen. Diese spielte gegen eine Mannschaft des deutschen Ruder-Clubs Regatta. Es ist interessant, wie die Fußballvereine nach und nach entstanden sind. Die sind nicht vom Himmel gefallen, sondern sie bildeten sich aus bereits bestehenden Sportvereinen. In jener Zeit waren Rudern und Radfahren die populärsten Sportarten. Dort begann man Fußball zu spielen, meistens wurde das von Leuten initiiert, die sich zuvor in England aufgehalten und den Fußballsport dort kennengelernt hatten. Nach und nach bildeten sich auch hierzulande richtige Fußballvereine. So ist beispielsweise der Deutsche Fußball-Club Prag aus dem Ruderverein Regatta vorgegangen. Slavia Prag war ursprünglich ein Radfahrtverein, er war aber wiederum mit einer literarischen Gesellschaft verbunden. Die ersten Fußballvereine waren so zu sagen Abspaltungen, Neugründungen von Vereinen, die anderen Sport betrieben.“

WM-Spiel Italien gegen die Tschechoslowakei im Jahre 1934  (Foto: CC0)
War die Fußballnationalmannschaft in der Ersten Republik aus Spielern verschiedener Sprachen zusammengesetzt?

„Die Nationalmannschaft hatte durchaus einen integrativen Faktor. Man kann sogar sagen, dass die Vizeweltmeister von 1934 ein Zusammengehörigkeitsgefühl hatten, das es sonst selten gab. Im Team spielten hauptsächlich Tschechen, weil sie auch zahlenmäßig die größte Gruppe darstellten, aber es spielten auch deutsche Muttersprachler und ein Slowake mit. Wenn man die Pressberichte jener Zeit verfolgt, kann man sehen, dass von Westböhmen bis in die Karpaten-Ukraine bei den Sportbegeisterten ein wirkliches Einheitsgefühl herrschte. Auch in deutschsprachigen Zeitungen wird von unserem Team gesprochen, und die Spieler waren nationalitätenübergreifend Heldengestalten der damaligen Zeit.“

Was steht im Fokus des Projektes, an dem Sie mit der Universität in Opava zusammenarbeiten?

„Der Fokus ist auf die Zuschauer gerichtet, wie hat sich das mit den Zuschauern entwickelt, wie wurde das in den Medien präsentiert. Denn damals gab es auch Zeitschriften, die sich an Fans der verschiedenen Clubs richteten, es wurden beispielsweise auch Wettbewerbe durchgeführt, es wurde der weibliche Super-Fan gekürt. Es ist interessant zu sehen, wie die Zuschauer dazu beitrugen, die Clubs zu finanzieren. Damals haben sich die Vereine ausschließlich über Kartenverkäufe finanziert. Es interessiert uns, ob man herausfinden kann, wie die Zuschauer sozial zusammengesetzt waren. Da gibt es einiges, was Rückschlüsse auf das damalige Alltagsleben bieten kann.“