Braten, Knödel und Minister - Der sonntägliche Polit-Debatten-Boom auf Tschechiens Bildschirmen
Was machen Sie gewöhnlich am Sonntag um die Mittagszeit? In vielen Fällen lautet die Antwort vermutlich: Essen. Und was macht Ihr Fernseher? Läuft er oder schweigt er? Wenn in tschechischen Haushalten beim Sonntagsessen die Kiste flimmert, dann bilden meist die Wortgefechte der heimischen Innenpolitik die Kulisse. Der Kampf der Volksvertreter ums schlagkräftigste Argument vereint sich mit dem Kampf der Sender um Quotenanteile, das Ergebnis ist eine regelrechte Sonntags-Debatten-Manie. Daraus ein hohes Maß an politischer Diskursfreude in der tschechischen Gesellschaft abzuleiten, das wäre allerdings ein voreiliger Schluss: Viele Experten kritisieren mittlerweile, dass es sich meist nur um Schaukämpfe der politischen Elite handelt, die Inhalte blieben dabei auf der Strecke. Die Regierungskrise der letzten Monate brachte dies deutlicher als sonst zum Vorschein, einer der Starmoderatoren warf jüngst gar das Handtuch. Mehr im folgenden Schauplatz von Gerald Schubert.
Vor zwei Wochen begrüßte Václav Moravec die Zuschauer des öffentlich rechtlichen tschechischen Fernsehens (Ceská televize) zum letzten Mal bei seiner Sendung "Fragen von Václav Moravec", der - wie es hier heißt - "Diskussionsreihe, in der die wichtigsten Aussagen fallen". Moravec selbst hat nach 15 Monaten auf diese "wichtigen Aussagen" keine Lust mehr. Er wolle seine Wochenenden künftig lieber ohne Politiker verbringen, meinte er kürzlich in einem Interview. Beim Publikum war er beliebt, und auch Fachleute schätzten die hohe Professionalität des 29-Jährigen, dessen journalistische Heimat eigentlich die tschechische Redaktion des britischen Radiosenders BBC ist.
Die "Fragen" gehen jedoch auch ohne ihn weiter. Für Hunderttausende Haushalte in der Tschechischen Republik ist die Sendung - gemeinsam mit anderen sonntäglichen Polit-Fernsehdebatten auf insgesamt gleich drei TV-Kanälen - zu einem beinahe schon fixen Programmpunkt geworden: Zeitgleich mit den "Fragen" läuft jeden Sonntag von 12 bis 13 Uhr auf Nova, dem größten Privatsender des Landes, "Sedmicka", was mit der Zahl sieben, tschechisch sedm, zusammenhängt und andeutet, dass sich die Debatte um das Geschehen der letzten Woche drehen soll. Wer um 13 Uhr noch immer nicht genug gehört und gesehen hat, der kann anschließend noch auf den zweiten Privatsender Prima umschalten. Dort gibt es dann einen weiteren Polittalk, die Nedelní jízda, etwa mit "Sonntagsfahrt" zu übersetzen.
Alle drei Programme haben eine ganze Menge gemeinsam: Fast immer sitzen oder stehen einander zwei Kontrahenten gegenüber, meist ein Vertreter einer Regierungspartei und ein Vertreter der Opposition. Die Gesprächsleitung des Moderators wird oft durch Zuspielungen aufgelockert, und zwar entweder durch Ausschnitte aus Nachrichten, die zu einem neuen Thema überleiten, oder durch zwischendurch eingeschobene Kommentare von weiteren Politikern, die sich per Telefon oder via Großbildschirm aus irgendeinem Regionalstudio zuschalten. Freilich gibt es auch Unterschiede: Ceská televize etwa zeigt die öffentlich-rechtlich anmutende Atmosphäre eines Runden Tisches, bei Sedmicka auf Nova hingegen ist so gut wie alles spitz. Nicht nur der Tisch, sondern auch die monströsen Zacken, die aus den Wänden ragen und irgendwie vermitteln, dass jedes Wort in diesem Raum gefährlich ist. Und Prima? Hier gibt es keinen Tisch, sondern Stehpulte, die mehr an eine Quizsendung erinnern. Doch egal, in welches der drei Studios wir gerade blicken - die Grundstimmung lässt sich meist mit einem einzigen Wort beschreiben: Duell.
Genau hier setzt auch die Kritik an, die von Fachleuten gegen die tschechischen Politdebatten ins Treffen geführt wird. So etwa von Jirí Pehe, Politikwissenschaftler und Direktor der New York University in Prag:
"Ich habe das Gefühl, dass die tschechischen Diskussionssendungen nichts anderes sind als ein Forum für politische Kampagnen, die jeweils sofort nach den Wahlen beginnen. Denn es treten dort lediglich die Politiker der einzelnen Parteien auf und präsentieren den Zuschauern die jeweiligen Parteimeinungen und -doktrinen. Diese werden leider nicht durch den Auftritt von Experten ausgeglichen, wie das zum Beispiel in manchen Diskussionssendungen in den USA der Fall ist. Dort treten zwar ebenfalls Politiker auf, aber gleichzeitig auch ein oder zwei Fachleute, die ein sachliches Gegengewicht darstellen."
Im Grunde genommen sind es fast immer dieselben 20 Köpfe, die sich in diesen Debatten abwechseln, kritisieren Pehe und andere Politologen sowie Medienexperten. Eine profunde Debatte, die über die öffentliche Austragung der tagespolitischen Scharmützel hinausgeht, sei hier kaum möglich. Darin lässt sich freilich auch etwas von der Entwicklungslogik europäischer Transformationsgesellschaften erkennen: In westlichen Staaten mit längerer demokratischer Tradition können Fernsehanstalten bei der Entstehung neuer Programmformate auf eine gewisse Kontinuität zurückgreifen. In den postkommunistischen Nachwende-Gesellschaften hingegen sind diese Wurzeln nur schwach ausgeprägt, der rasche Kulturwandel vollzieht sich oft mehr vor als hinter den Kulissen. Das gilt gerade für die Medien. Politikwissenschaftler Jirí Pehe:
"Das Problem ist: In unseren Diskussionssendungen streiten lediglich die Politiker und führen dabei ihr Theater auf. Im Wesentlichen ist das wie gesagt ein permanenter Wahlkampf, bei dem man eigentlich schon von vornherein weiß, worüber und auch wie die Politiker sprechen werden. Provokativ formuliert: Wenn ich weiß, dass in eine bestimmte Sendung zwei bestimmte Politiker kommen, dann könnte ich mir oft genauso gut irgendwelche Imitatoren mieten und die ganze Sendung vorher selber schreiben."
Im Zusammenhang mit der jüngsten Regierungskrise, die das Land fast vier Monate lang in Atem gehalten hatte und erst Mitte Mai beendet wurde, als das Abgeordnetenhaus der neuen Regierung das Vertrauen aussprach, wurden die Debatten mit besonderer Heftigkeit geführt. Teilweise auch deshalb, weil fast immer Spitzenvertreter der Parteien auf dem Bildschirm auftauchten - und zwar nicht selten genau die, die von der Krise und den vorangegangenen Skandalen sowie Skandalvorwürfen selbst betroffen waren. Also etwa Expremier Stanislav Gross, dem die unklare Finanzierung seiner Wohnung letztlich den Job gekostet hat, oder der Chef der Christdemokraten, Miroslav Kalousek, der die Causa zur Koalitionsfrage machte. Wäre es also nicht besser, gerade angesichts einer schweren Krise auch andere Politikerinnen und Politiker ins Studio zu laden? Menschen, die ein bisschen mehr Abstand zu den oft recht persönlich geführten Grabenkämpfen haben? Martin Veselovský, Moderator der Debatte "Sedmicka" am Privatsender Nova:
"Wir versuchen manchmal schon, die so genannte zweite oder dritte Politikergarnitur einzusetzen. Also zum Beispiel Abgeordnete, die in irgendwelchen Ausschüssen arbeiten, medial sonst nicht so oft zu Wort kommen, aber in ihren Bereichen Experten sind. Diese Sendungen haben dann aber um mehrere Hunderttausend Zuschauer weniger, was für mich einfach entscheidend ist. Wenn die Kurve unter - sagen wir - 600.000 fällt, dann ist das ein Problem. Und danach muss ich mich richten."
Doch auch Veselovský, der stets die Quote im Blick hat und sich als Vertreter eines Privatsenders auch dazu bekennt, hat so seine Vorbilder im - allerdings ausländischen - öffentlich-rechtlichen Bereich:
"Die Protokolle von Jeremy Paxman von der BBC zu lesen, also seiner Gespräche zum Beispiel mit Tony Blair, das ist einfach eine Wohltat. Tony Blair nämlich schätzt Jeremy Paxman. Wenn in Tschechien jemand ein Gespräch mit der Frage 'Wollen Sie sich für etwas entschuldigen?' beginnen würde, dann würde der betreffende Politiker wahrscheinlich mit Gelächter oder einem verständnislosen Blick antworten und dann das Thema ganz woanders hinführen. Fertig. Im Gespräch mit Paxman aber kommt von Blair eine Beichte. Er sagt, dass er sich für die Behauptung entschuldigen will, im Irak gebe es Massenvernichtungswaffen. Da sehe ich einen diametralen Unterschied."
Einen großen Unterschied gibt es aber freilich auch zwischen Radio und Fernsehen. Ersterem will sich nun Václav Moravec wieder verstärkt widmen. Vom Bildschirm verschwindet er, er kehrt der aufgeheizten Atmosphäre des Fernsehstudios den Rücken, kehrt zurück in den Schoß der BBC.
"Ich danke auch allen Kameraleuten und allen Technikern, die fünfzehn Monate lang die Nerven hatten, bei dieser Sendung mitzumachen", sagte er, als vor zwei Wochen zum letzten Mal die "Fragen von Václav Moravec" zu Ende gingen.