Braunkohle, Glauben und Fußball – Deutscher Pfarrer betreut Gemeinden in Nordböhmen
Der deutsche Priester Philipp Irmer ist vor fast 20 Jahren nach Tschechien gekommen. Er lebt in der Gemeinde Mariánské Radčice / Maria Ratschitz. Der Wallfahrtsort liegt etwa fünf Kilometer südlich von Litvínov / Ober Leutensdorf. Der Seelsorger betreut acht Kirchengemeinden in der ganzen Umgebung und ist für elf Kirchen verantwortlich. Die Gegend ist auch deswegen interessant, weil sich hier Braunkohlegruben immer weiter in die Landschaft hineinfressen. Mehr über das Leben in der mehrfach geschundenen Gegend erfahren Sie im folgenden Gespräch mit Pfarrer Irmer.
Herr Pfarrer Irmer, wie haben Sie eigentlich diese Region entdeckt?
„Ich bin Münsterer Diözesanpriester und wurde 1997 geweiht. Von 1994 bis 1996 war ich in Ahaus an der niederländischen Grenze für eine Jugendgruppe verantwortlich. Diese haben in einer Zeitschrift gelesen, dass ein Abt aus Niedersachsen in Kloster Osek (auf Deutsch Ossegg, Anm. d. Red.) lebte und versuchte, es wieder auf Vordermann zu bringen. Er bot den Jugendlichen die Möglichkeit an, im Kloster unterzukommen, sie bräuchten nichts zu bezahlen, aber sie könnten mithelfen, beispielsweise im Garten. Ostern 1996 bin ich dann das erste Mal mit drei Jugendlichen hingefahren. und wir haben dort interessante und eindrückliche Tage erlebt. Am 13. April 1996, das ist der Fatima-Tag, sind wir das erste Mal nach Maria Ratschitz gepilgert. Auch für mich war es die erste Begegnung mit dem Ort. Aber ich hätte mir natürlich nicht ausgemalt, dass ich hier eines Tages herziehen würde. Von da an bin ich dann mindestens einmal im Jahr mit Jugendlichen im Kloster Osek gewesen. Sie waren wirklich schwer begeistert vom Abt und der anderen Art, den Glauben zu leben. Denn im katholischen Münsterland nimmt man den Glauben, ich will nicht sagen: mit der Muttermilch auf, aber mit der Konfession ist es zumindest etwas anderes als hier. So kam ich dazu.“
Und jetzt sind Sie seit fast 20 Jahren hier?
„2003 bin ich für den Seelsorgedienst in der Diözese Leitmeritz vom Bischof von Münster freigestellt worden. Ich bin kein Ordenspriester, sondern Weltpriester und bin auch nach wie vor in Münster inkardiniert, absolviere aber seit 19 Jahren meinen Dienst hier in dieser Gegend. Ursprünglich war ich nur Pfarrer in Maria Ratschitz, aber schon nach einem Jahr bin ich am bischöflichen Gymnasium in Bohosudov (auf Deutsch Mariaschein, Anm. d. Red.) Spiritual geworden. Das habe ich drei oder vier Jahre lang gemacht, und nach einem halben Jahr wurde ich gefragt, ob ich nicht übergangsweise für ein halbes Jahr Pfarrer in Bohosudov sein könnte. Dieses ‚übergangsweise‘ ist inzwischen auch schon 18 Jahre her. Insofern bin ich tatsächlich fest installierter Pfarrer und habe im Laufe der Zeit alle möglichen Pfarreien hinzubekommen, sodass wir jetzt eine Pfarreien-Gemeinschaft haben.“
Wie viele Kirchen müssen sie betreuen?
„Mehr als elf Kirchen und acht Gemeinden.“
Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich in den 1990er Jahren hier in der Gegend war und Libkovice / Liquitz noch stand. Die Stadt wurde dann aber wegen der Braunkohle abgerissen. Haben Sie sie noch erlebt?
„Libkovice war eine Stadt. Sie stand lange Zeit auf dem Index und sollte weggebaggert werden – der Kohle wegen. Ich bin 1996 noch durch Libkovice gekommen, und da stand auch noch die Kirche. Die hatte man gerade neu eingedeckt, und es sollte ein Infozentrum entstehen, um auf die besondere Lage und die Gegend aufmerksam zu machen. Als ich aber 1997 oder 1998 wieder hierherkam, da war die Kirche schon demontiert und auseinandergebaut. Ich bin an der Kirche mal mit meinen Hunden spazieren gewesen, aber man konnte tatsächlich nur noch die Fundamente sehen. Libkovice ärgert die Braunkohlegesellschaft enorm, denn vor drei Jahren wurde dort das Fundament einer noch älteren Kirche gefunden. Um diese Kirche herum wurde zudem ein archäologisch wertvoller Friedhof entdeckt. Da die archäologischen Fundstücke über den Abbauinteressen stehen, mussten der Bagger auf die Bremsen treten und erst einmal andersherum baggern, weil die Archäologen zunächst die Gräber und das Erbe der Vergangenheit freilegen müssen.“
Kann man da vorbeigehen?
„Nein, da ist alles abgesperrt. Aber man kann den Bagger sehen. Denn so weit entfernt ist das gar nicht. Am Rande der Gemeinde wurde eine Schutzmauer erbaut, die uns vor dem Staub beschützen soll, was natürlich Quatsch ist, und dahinter ist letztlich schon das große Abbaugebiet.“
Diese Region ist auch dadurch stark beeinflusst, dass die deutschsprachige Bevölkerung vertrieben wurde. Es sind viele neue Menschen hierhergezogen. Die haben wahrscheinlich aber noch keine Beziehung zu den Ortschaften. Spüren Sie das auch?
„Die Gegend hat gelitten – rein menschlich, da die ehemalige Bevölkerung, die hier verwurzelt war, mit nichts auf dem Rücken aus dem Land getrieben wurde.“
„Was wir hier haben, ist natürlich eine Wunde, wie Sie richtig sagen. Die Gegend hat gelitten – rein menschlich, da die ehemalige Bevölkerung, die hier verwurzelt war, mit nichts auf dem Rücken aus dem Land getrieben wurde. Was sie zurückgelassen haben, war natürlich eine enorme kulturelle Erbschaft, allerdings nicht mehr mit geistigem und menschlichem Leben gefüllt. Die Menschen, die man hergeholt hat, sind auch entwurzelt worden, unter welchen Umständen auch immer. Man hat ihnen Arbeit, Haus und Zuflucht angeboten, aber damit ist ja noch gar keine Sozialisierung in dem Sinne erfolgt, dass man sich auch mit der jeweiligen Umgebung innerlich verbunden fühlen würde. Immer wenn ich etwas verlasse, hinterlässt das Wunden. Und nur weil ich etwas anderes bekomme, ist das Alte noch lange nicht abgeheilt. Die Zeit war auch noch nicht da, alles vom Kopf und von der Seele her anzugehen. Somit sind die neuen Bewohner in eine Gegend gekommen, die durchaus christlich geprägt war, allerdings durch das Wegbleiben der Menschen, die ursprünglich hier gelebt haben, auch völlig entgeistlicht war. Wenn mir bestimmte Sachen nichts sagen, dann kann ich mich hinsetzen und überlegen: Was bedeutet das für mich? Aber ich glaube, dieser Schritt ist einfach, der Zeit geschuldet, nicht passiert.“
Und jetzt ist die Gegend noch durch diesen Braunkohleabbau verwundet…
„Das ist die nächste Wunde. Vor allem steckte da eine gewisse Ideologie dahinter. All das, was als ‚deutsch‘ galt – das deutsche Erbe sozusagen – in der besagten Kohlegrube verschwinden zu lassen. Der Bagger sollte beispielsweise um das von hier nicht weit entfernte Schloss Jezeří (deutsch Eisenberg, Anm. d. Red.) herumknabbern, sodass das Schloss in die Grube fällt und man wenig Möglichkeit gehabt hätte, über das deutsche Erbe nachzudenken. Deutsch ist ja auch immer relativ, es waren ja Sudeten. Die Narbe lässt sich nicht nur aus der Nähe beobachten. Selbst vom Satelliten aus ist sie zu sehen. Das ist kein Bypass, sondern eine schwere Operation mit dem Ergebnis, dass Wasser wieder in die Gruben fließen wird. Die Landschaft ist wunderschön, wie ich finde. Schon Goethe hat sich darin verliebt. Von daher glaube ich: Wenn die Gegend einmal umstrukturiert und revitalisiert ist, gibt sie den Menschen wieder die Möglichkeit, die Landschaft zu genießen.“
Sie haben in den vergangenen Jahren auch viele Jugendliche und Freiwillige hier hergeholt. Beteiligten sie sich an der Instandsetzung des hiesigen Kirchenareals?
„Ja, wir haben das zuerst mit dem ‚Internationalen Bauorden‘ organisiert. Das waren Jugendliche aus ganz Europa – aus Belgien, den Niederlanden oder auch der Slowakei, die in den Anfangsjahren mitgeholfen haben. Dann wurden wir von der Initiative ‚Christen für Europa‘ angefragt, ob sie für Sprachkurse Freiwillige zu uns schicken können. Sie kommen im Sommer dieses Jahres wieder. Es waren Freiwillige aus Rumänien, der Ukraine, Russland, Belarus, Spanien und sogar aus Nigeria und China, die nach Maria Ratschitz kamen, um Deutsch zu lernen.“
Zur Gemeinden-Gemeinschaft gehört, wie Sie erwähnten, auch das Zisterzienserkloster Osek. Seit einigen Jahren wird dort Bier gebraut. War das Ihre Idee?
„Ich durfte bei der ersten Brauaktion mit dabei sein und habe das Ergebnis immer abgeschmeckt, sodass eines der Biere so heißt wie ich, nämlich Philipp.“
„Das war immer meine Idee! Dass die so schnell realisiert werden konnte, hat mich natürlich erfreut. Allerdings durfte ich bei der ersten Brauaktion mit dabei sein und habe das Ergebnis immer abgeschmeckt, sodass eines der Biere so heißt wie ich, nämlich Philipp. Mir schmeckt es tatsächlich am besten, aber leider ist momentan Fastenzeit, also muss ich noch ein bisschen darauf warten.“
Sie leben seit Jahren in Böhmen, aber sind angeblich dem deutschen Fußball treu geblieben. Fahren Sie regelmäßig zu Bundesliga-Spielen?
„Mindestens einmal im Jahr oder Halbjahr bin ich dort. Wegen Corona war das in letzter Zeit ziemlich schwer. Aber es stimmt, ich hab einen Stammplatz in meinem Stadion, in der Spinne, in Mönchengladbach. Das ist mein Klub, schon seitdem ich ein kleiner Junge war, und dem bin ich treu geblieben. In den guten Zeiten, aber auch, wenn sie nur mäßig gut gespielt haben.“
Haben Sie nicht auch daran gedacht, Fan eines tschechischen Vereins zu werden? Denn dann müssten Sie nicht so weit reisen…
„Natürlich. Ganz am Anfang meiner Zeit in Maria Ratschitz spielte Baník Most noch in der ersten Liga, die nannte man Gambrinus-Liga, aber sie sind leider abgestiegen. Jetzt hab ich mich nach Teplice umgesehen und war bei einem Champions-Liga-Qualifikationsspiel gegen Haifa.“
Maria Ratschitz war früher ein bekannter Wallfahrtsort…
„Ich hoffe, dass es das noch ist.“
Das schon, aber es ist für tschechische Verhältnisse ein bisschen in Vergessenheit geraten. Ich kenne aus meiner Kindheit eigentlich nur Svatá Hora / Heiligenberg relativ gut…
„Von der Anlage her ist es sehr ähnlich. In der Mitte ein Heiligtum und drum herum die Betenden.“
Gibt es eine Legende, die sich auf die Wallfahrtsstätte bezieht?
„Es gibt eine Legende, die haben wir auch auf unserer Homepage stehen, falls ich mich nicht ans Einzelne erinnere. Sie dreht sich um eine Flucht. Ein Adeliger ist hier in die Gegend gekommen und hat, weil Leute ihm nach dem Leben trachteten, der Maria geschworen, ihr hier ein Gnadenbild zu stiften, wenn er heil aus der Sache wieder rauskommt. Die Tatsache, dass das Gnadenbild hier ist, sagt zumindest über ihn aus, dass er es überlebt hat. Das Heiligtum hat sich weiterentwickelt, und die kleine Kapelle hier wurde im Barock zu einer Kirche umgebaut. Sie ist nun in dem Zustand, wie sie jetzt ist.“
Was motiviert Sie dazu, hier vor Ort alles aufzubauen?
„Erstmals geht mit gar nicht darum, etwas aufzubauen. Es ist ganz gut, dass es passiert. Denn in der katholischen Kirche sagen wir so schön: Gnade setzt die Natur voraus. Wenn das ein Gnadenort ist, dann braucht er auch eine Möglichkeit, gefasst zu werden. Wenn diese ,Perle‘ – oder ich nenne sie die ,alte Dame‘ – hier existiert und die Menschen hinkommen, ist das für mich Grund genug, mich auch darum zu kümmern, dass es sich weiterentwickelt. Ich bin ganz zuversichtlich, dass das gelingt. Wenn ich auf dieses Haus schaue, in dem wir für Jugendliche und Junggebliebene Übernachtungsmöglichkeiten geschaffen haben, dann glaube ich, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“
Sie sprechen sehr gut Tschechisch. Wie wurden Sie von den hiesigen Bewohnern aufgenommen?
„Ehrlich gesagt: Ich habe hier nie Schwierigkeiten gehabt. Und ich habe hier nie Abweisung erfahren. Im Gegenteil: Als ich in einer Kneipe in Osek gewesen bin und mit dem Wirt damals über die Flüchtlingsfrage gesprochen habe, habe ich gesagt, dass wir uns nicht immer nur dagegen stellen dürfen. Menschen, die aus anderen Ländern abhauen, sind nicht von sich aus auf der Flucht, sondern weil sie dazu gezwungen wurden oder weil sie für sich eine andere Perspektive suchen. Dann haben wir uns im Gespräch ereifert, und ich sagte zu ihm: Allen Fremden gegenüber kann man nicht abweisend sein, und abgesehen davon bin ich ja auch ein Fremder. Und dann sagte er: ‚Nein, du bist einer von uns.‘ Insofern habe ich nie erfahren, dass mich jemand schief angeguckt hat.“
Heute flüchten viele Menschen vor dem Krieg in der Ukraine. Wie erleben Sie dies hier in der Gemeinde?
„Ich war schlicht baff, mit welcher Offenherzigkeit die Tschechen anfingen, die Ukrainer willkommen zu heißen.“
„Ich schreibe darüber gerade einen kleinen Artikel. Um Freiheit geht es da – wie man die Freiheit schützen kann, wie wir das hier an der Grenze erlebt haben. In diesem Zusammenhang habe ich gesagt: Freiheit braucht auch eine Grundlage. Die Freiheit, die wir in der Annäherung an Russland erhofft haben, zumindest als Gedanke an sie, ist uns komplett genommen worden, weil Freiheit dort in höchstem Maße beschnitten wird. Das fängt schon bei den Medien an und endet nicht beim Internet. Jeder Mensch hat Recht auf Information, und das wird dort gesteuert, nur damit die Füße still halten und nichts gesagt wird. Bevor es überhaupt losging, bevor sich Flüchtlinge ankündigten, haben die Leute in unseren Gemeinden schon darauf hingewiesen. Ich war schlicht baff, mit welcher Offenherzigkeit die Tschechen anfingen, die Ukrainer willkommen zu heißen. Das hätte ich mir auch bei den Syrern und den anderen Geflüchteten vorstellen können. Man kann es auf die unterschiedlichen Kulturströme schieben und sagen: ,Das ist unser Kulturkreis.‘ Ich bin da vielleicht zu sehr Philanthrop. Ich verstehe uns als Kinder eines Gottes, und es spielt keine Rolle, ob ich als Moslem, Christ oder Jude oder wie auch immer durch die Weltgeschichte lebe. Wir sind Menschen, das zeichnet uns aus. Es gibt da keinen, der besonders weise ist. Insofern sind wir alle gleich. Das, was jetzt an Solidarität erfreulicherweise den Ukrainern entgegenspringt, das hätte ich mir für alle anderen Suchenden genauso gewünscht. Nichtsdestotrotz freue ich mich, dass diese Initiative bei uns so spürbar ist und dass ich sagen kann: Sie haben hier ein Herz. Und es ist eben die Frage, wie wir mit Herz und Verstand die Problematik in die Reihe bringen, dass wir sie lösen können. Der Unterschied jetzt ist, dass Frauen und Kinder kommen. Aus Syrien waren es halt die jungen Männer, und das hat Vorbehalte geschaffen. Ich spüre hier eine große Solidarität. Und selbst, als wir spontan eine Sammlung in unserem Verein initiiert haben, ist ein für mich nie dagewesener Spendenbetrag zusammengekommen. Den habe ich dann zur Caritas nach Leitmeritz geschickt, damit sie dort mit dem gesammelten Geld Größeres vollbringen können. Wir haben in unserem Haus auch eine ukrainische Familie untergebracht. Es sollten noch mehrere kommen, allerdings wollten sie nicht in diese ,Nicht-Zivilisation‘ hinein. Denn klar ist, wer zuerst nach Ústí nad Labem oder nach Prag kommt, sieht, dass die Möglichkeiten in einer Stadt wesentlich größer sind als hier auf dem Land. Aber wir haben unsere Bereitschaft erklärt, sie aufzunehmen. Ich gehe nicht davon aus, dass der Krieg in den nächsten Tagen beendet ist, das weiß man bei diesem Verrückten leider nie. Deswegen besteht die Bereitschaft weiter, und ich bin auch dankbar für die relativ unkomplizierte Hilfe vom Staat. Zusammen sind wir, wie man sagt, Menschen – und Menschen helfen Menschen. Es ist gut, dass wir sie auch leibhaftig erleben können.“