Charta, Anticharta und "graue Zone"
Am 28. Januar 1977 - vor genau 25 Jahren also - bekannten sich im Prager Nationaltheater zahlreiche namhafte Künstler auf Druck des Regimes öffentlich zum kommunistischen Systém. Es handelte sich um eine von der Nomenklatura bewusst inszenierte Gegen-Kampagne zur "Charta 77", einem Dokument, das tschechische Dissidentenkreise wenige Wochen zuvor in Umlauf gebracht hatten und mit dem sie von dem kommunistischen Regime die Einhaltung elementarer Menschen- und Bürgerrechte einforderten. Das öffentliche Bekenntnis der Künstler zum Kommunismus figuriert heute unter der Bezeichnung "Anticharta". Doch handelte es sich bei deren Unterzeichnern wirklich um Gegner der Dissidenten? Silja Schultheis ist dieser Frage nachgegangen.
Im Vorfeld des 25. Jahrestages der sog. "Anticharta" veröffentlichte die Tageszeitung "Lidove noviny" in einer Extra-Beilage zum ersten Mal im Wortlaut die Texte der "Charta 77" und der "Anticharta" nebeneinander. Zusätzlich druckte das Blatt ein Verzeichnis derjenigen Künstler ab, die damals dem Druck der Kommunisten nachgegeben und ihre Unterschrift hergegeben haben. Eine solche öffentliche Verurteilung hält die Soziologin Jirina Siklova, damals selber Dissidenten und Unterzeichnerin der "Charta 77", für unfair, da sie von denjenigen vorgenommen wird, die diesem Druck selber nicht ausgesetzt waren. Zur Illustration führt Siklova folgendes Beispiel an:
"Vier Mädchen sitzen, sagen wir, im Cafe Slavia. Es kommt ein reicher Scheich herein, mit Ringen an den Fingern, und fragt eine von den vieren, ob sie mit ihm aufs Zimmer gehe. Sie geht mit ihm, und die übrigen verleumden sie, wie schlecht sie sei, dass sie sich von diesem Scheich hat kaufen lassen. Der Scheich hat aber die übrigen nicht gefragt, d.h. sie waren dieser Versuchung nicht ausgesetzt. Wenn jemand so unauffällig ist, dass sich die Staatssicherheit für ihn nicht interessiert, dann hat er nicht ganz das Recht, zu moralisieren und zu sagen: ich hätte das nie gemacht."
Hinzu kommt für Siklova, dass es sich bei den Unterzeichnern der "Anticharta" vielfach keineswegs um Gegner der Dissidenten handelte:
"Ich habe häufig die Erfahrung gemacht, dass diese sogenannte 'Grauzone', also diejenigen, die - sagen wir - nicht den Mut oder die Heldenhaftigkeit besaßen, die Charta zu unterschreiben, eigentlich sehr mit deren Ideen übereinstimmte. Viele von ihnen waren ausgezeichnete Menschen und haben uns Dissidenten in vielen Bereichen geholfen. Diese Gruppe war sehr wichtig und darf nicht übersehen werden."
Und noch einen weiteren Punkt führt die Soziologin Siklova an, der in Zusammenhang mit der Diskussion um die "Charta 77" interessant erscheint. Die während des Kommunismus verbreitete Auffassung der schweigenden Mehrheit nämlich, dass man selber keinen Einfluss auf das Geschehen nehmen kann - kurz bekannt unter der Formel "wir" - die Opfer und "sie" - die Herrschenden. Diese Haltung beobachtet Jirina Siklova auch in der gegenwärtigen tschechischen Gesellschaft:
"Ich sehe diese Trennung in 'wir' und 'sie' auch heute noch. Dass Menschen denken, nur derjenige macht Politik, der in einer politischen Partei ist und im Fernsehen auftritt. Dem ist nicht so. Ich mag die Menschen nicht, die sich denken: sollen die Politiker doch machen, ich bin mit ihnen nicht einverstanden, ich wähle sie nicht. Damit berauben sie sich selber der Möglichkeit, aktiv zu sein. Wenn ich selber nicht versuche, etwas zu beeinflussen, dann reihe ich mich selber in die schweigende Mehrheit ein. Und das machen heute überflüssigerweise viele Menschen, die wesentlich aktiver sein könnten."