"Da ward Böhmen, reich an tausend Reizen" - zum 80. Todestag von Rainer Maria Rilke

Rainer Maria Rilke

Er ist wohl einer der einflussreichsten deutschsprachigen Lyriker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Werk trifft gerade in den letzten Jahren auf eine wachsende Aufmerksamkeit - und das auch außerhalb literarisch interessierter Kreise. Die Rede ist von Rainer Maria Rilke, einem gebürtigen Prager, der vor 80 Jahren gestorben ist. An ihn und seine böhmischen Wurzeln erinnert im folgenden Beitrag Christian Rühmkorf.

Viele meinen, er sei ein deutscher Dichter gewesen. Andere nehmen es genauer und sagen: Österreicher, ganz klar. Sicher ist zweierlei: Rilke ist in Prag, also in Böhmen, geboren und als Tschechoslowake gestorben - in der Schweiz. Und damit haben wir in zwei Sätzen auch schon eine besondere Facette dieses Dichters angedeutet. Er war ein Weltbürger und als solcher hätte er wohl gegen jede gesellschaftliche oder nationale Vereinnahmung die Stimme erhoben. Seine böhmische Heimat allerdings hat er nie aus den Augen verloren. In seinen frühen Werken hat sie sich fest eingeschrieben.

Rainer Maria war ein zartes Kind. Als er am 4. Dezember 1875 in Prag zur Welt kam, hieß er eigentlich René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke. Seine Mutter Sophie ist Tochter eines Prager Kaufmannes und Kaiserlichen Rats. Sein Vater hingegen stammt eher aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Der gesellschaftliche Aufstieg über eine Militärlaufbahn misslingt; seither verdingt er sich als Eisenbahnbeamter in Prag. Das hinterlässt Spuren im familiären Leben. Die Mutter fühlt sich unter ihrem Stande verheiratet, trennt sich von ihrem Mann und zieht nach Wien. Rainer Maria ist zu diesem Zeitpunkt gerade einmal zehn Jahre alt. Von seiner frühen Kindheit an bis zur Einschulung ist er von seiner Mutter als Mädchen erzogen worden - mit Puppen, Kleidchen und langen blonden Zöpfen. Diese Prägungen in seinem Prager Zuhause finden in einem seiner frühen Gedichte aus dem Jahre 1895 Eingang. Hier deutet er auch bereits seinen Hang zum Musischen an:

Mein Geburtshaus

Rainer Maria Rilke  (Foto: CTK)
Der Erinnrung ist das traute Heim der Kindheit nicht entflohn, wo ich Bilderbogen schaute im blauseidenen Salon.

Wo ein Puppenkleid, mit Strähnen dicken Silbers reich betreßt, Glück mir war; wo heiße Tränen mir das "Rechnen" ausgepreßt.

Wo ich, einem dunklen Rufe folgend, nach Gedichten griff, und auf einer Fensterstufe Tramway spielte oder Schiff.

Wo ein Mädchen stets mir winkte drüben in dem Grafenhaus ... Der Palast, der damals blinkte, sieht heut so verschlafen aus.

Und das blonde Kind, das lachte, wenn der Knab ihm Küsse warf, ist nun fort; fern ruht es sachte, wo es nie mehr lächeln darf.

Rilkes Schulzeit ist eine Geschichte mit vielen Brüchen. Er soll die Offizierslaufbahn einschlagen, doch hält er dem Drill und dem rauhen Umgang auf der Militärschule in Österreich nicht stand. Nicht viel besser ergeht es ihm an der Handelakademie in Linz. In dieser Zeit veröffentlicht er jedoch sein erstes Gedicht und legt schließlich nach dreijährigem Privatunterricht in Prag 1895 die Reifeprüfung ab. Dass ihm nach einem Brotberuf nie der Sinn stand, gesteht Rilke mit einem Augenzwinkern im seinem Gedicht "Als ich die Universität bezog":

Als ich die Universität bezog

Ich seh zurück, wie Jahr um Jahr so müheschwer vorüberrollte; nun endlich bin ich, was ich wollte und was ich strebte: ein Skolar.

Erst ´Recht´ studieren war mein Plan; doch meine leichte Laune schreckten die strengen, staubigen Pandekten, und also ward der Plan zum Wahn.

Theologie verbot mein Lieb, konnt mich auf Medizin nicht werfen, so daß für meine schwachen Nerven nichts als - Philosophieren blieb.

Die Alma mater reicht mir dar der freien Künste Prachtregister,- und bring ichs nie auch zum Magister, bin was ich strebte: ein Skolar.

Nach einem Jahr an der Prager Universität zieht es ihn für das erwähnte Studium der Philosophie nach München, das damals ein kosmopolitisches Zentrum war. Von hier aus erkundet er an der Seite maßgeblicher Künstler und Intellektueller alle Winkel Europas und reist sogar nach Afrika. Zu dieser Zeit entstehen aber auch Gedichte, in denen er mit fast naturalistischem Duktus seine tiefe Verbundenheit mit Land und Leuten seiner böhmischen Heimat dokumentiert:

Land und Volk

Gott war guter Laune. Geizen ist doch wohl nicht seine Art; und er lächelte: da ward Böhmen, reich an tausend Reizen.

Wie erstarrtes Licht liegt Weizen zwischen Bergen, waldbehaart, und der Baum, den dichtgeschart Früchte drücken, fordert Spreizen.

Gott gab Hütten; voll von Schafen Ställe; und der Dirne klafft vor Gesundheit fast das Mieder.

Gab den Burschen all, den braven, in die raue Faust die Kraft, in das Herz - die Heimatlieder.

Heimat - ein schillerndes Wort, das bei Rilke, obwohl Weltbürger, einen wichtigen Platz hat. Zu dieser Heimat zählen für ihn auch die Armen, welche in den Straßen Prags ihr getriebenes Leben führen. Einer von ihnen ist der tschechische Drahtbinderjunge, dem Rilke in seinem Gedicht "Der kleine Dratenik" ein Denkmal setzt. Dabei webt er auch tschechische Ausdrücke in seine Verse ein:

Der kleine Dratenik

Kommt so ein Bursche, ein junger, Mausfallen, Siebe am Rücken, folgt mir durch Gassen und Brücken: «Herr, ich hab 'türkischen Hunger'.

Nur einen Krajcar, nur einen für ein Stück Brot, milost' pánku!» Da! - Und er stammelt mir Dank zu, doch lässt nicht Ruh er den Beinen.

Lebt nicht von bloßem Gelunger. - Riecht an den Türen den Braten und muß die Pfannen doch drahten - leer: - das macht 'türkischen Hunger'.

Der Zeitgeist nationaler Selbstbestimmung weht gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker durch das marode Habsburgerreich. Über seine Freundschaft mit dem tschechischen Dichter Julius Zeyer steht Rilke in Verbindung zu jenen Kreisen, die sich um die kulturelle, aber auch politische Emanzipation Böhmens bemühen. Zeyer hatte ihm einen neuen Zugang zur tschechischen Tradition vermittelt. Und so verwundert es nicht, dass wir in Rilkes Werk auch auf ein Gedicht stoßen, dass dem Leben Kajetan Tyls gewidmet ist, dem Verfasser der tschechischen Nationalhymne "Kde domov muj" - Wo ist mein Heim, mein Vaterland. Rilke lässt sich jedoch weder von der einen noch von der anderen Seite vereinnahmen. Wie ein politisches Vermächtnis, eine Botschaft, die bis in die nationalsozialistische Zeit hineinzutönen scheint, kann daher das Gedicht "In Dubiis" gelesen werden. Darin formuliert er das moderne Manifest eines heimatverbundenen Individualismus. Heimat - das ist die Welt und das ist das Haus im Heimatort.

In Dubiis

I

Es dringt kein Laut bis her zu mir von der Nationen wildem Streite, ich stehe ja auf keiner Seite; denn Recht ist weder dort noch hier.

Und weil ich nie Horaz vergaß bleib gut ich aller Welt und halte mich unverbrüchlich an die alte aurea mediocritas.

II

Der erscheint mir als der Größte, der zu keiner Fahne schwört, und, weil er vom Teil sich löste, nun der ganzen Welt gehört.

Ist sein Heim die Welt; es misst ihm doch nicht klein der Heimat Hort; denn das Vaterland, es ist ihm dann sein Haus im Heimatsort.

Am Ende des Ersten Weltkrieges bricht das Habsburgerreich auseinander. Rilke ist staatenlos, sein österreich-ungarischer Pass ungültig. Und so beantragt der gebürtige Prager die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft. Seine letzten Lebensjahre verbringt er jedoch in der Schweiz. Rilke verstarb vor 80 Jahren, am 29. Dezember 1926 an Leukämie in einem Spital bei Montreux. Er wurde 51 Jahre alt.