Dagmar Šimková: Ein Schicksal im kommunistischen Frauengefängnis

„Das schöne Mädchen aus der Villa am Fluss“ – so könnte der Titel eines Märchens lauten. Das schöne Mädchen, das so genannt wurde, heißt Dagmar Šimková. Zwar hat sie tatsächlich ein Buch geschrieben. Es ist aber alles andere als ein Märchen. Es ist das Zeugnis einer politischen Gefangenen, ein Bericht über die Zustände in den Frauengefängnissen der kommunistischen Tschechoslowakei. Mehr über Dagmar Šimková, die 1929 in Prag geboren und 1995 in Australien gestorben ist, erfahren Sie im folgenden Geschichtskapitel.

„Größe: 1,67, Figur: mittel, Gesicht: rund, Stirn: hoch, Augenfarbe: braun“, so wird Dagmar Šimková in ihrer Aufnahmeakte beschrieben. Am 11. Oktober 1952 wird sie in Untersuchungshaft genommen. Sie ist gerade 23 Jahre alt. Sie ist ins Visier der Staatssicherheit geraten, weil sie regimekritische Flugblätter verteilt und Deserteuren Unterschlupf gewehrt hat. Rückblick:

1948 schreibt sich Dagmar Šimková für Kunstgeschichte und Anglistik an der Prager Karlsuniversität ein. Sie ist 19 Jahre alt und gehört zur so genannten Jazz-Generation, wie die Historikerin Pavlína Kourová erklärt, die sich mit Šimkovás Schicksal beschäftigt hat:

„Das waren diese jungen Leute, die sich für Amerika und für Jazz begeistert haben. Sie mochten diese Musik. Sie waren frei denkende Menschen, so auch Dagmar Šimková. Sie tanzte gerne, sie lernte Englisch. Sie war sehr hübsch und das Leben machte ihr Spaß.“

Dagmar Šimková stammte aus einer wohlhabenden Familie. Der Vater hatte in den 1920er Jahren eine Villa im südböhmischen Písek gebaut, in der Dagmar ihre Kindheit verbrachte. Der kommunistische Putsch im Jahr 1948 veränderte das Leben der Familie. Dagmar musste ihr Studium abbrechen.

Antikomunistisches Plakat
„Damals entschied die soziale Herkunft darüber, wer studieren durfte. Dagmar Šimková stammte aus einer reichen Familie, ihr Vater war Bankier. Wenn solche Leute überhaupt studieren durften, dann mussten sie erst einige Jahre in einer Fabrik arbeiten, um zu zeigen, dass sie sich eine Ausbildung an der Hochschule verdienen.“

Hinzu kam, dass Dagmars acht Jahre ältere Schwester Marta 1950 nach Australien emigrierte. Von da an musste Dagmar die Hoffnung definitiv aufgeben, ihr Studium fortsetzen zu können. Stattdessen arbeitete sie erst in einer Textilfabrik und dann als Krankenschwester. Zusammen mit ihrer Mutter durfte sie zwar weiterhin in der Villa in Písek wohnen, allerdings blieb den beiden nur ein Zimmer. Die Küche mussten sie mit anderen Mietern teilen, die die Kommunisten bei ihnen einquartiert hatten. Dagmar Šimková lehnte sich gegen das Regime auf. Sie verteilte regierungskritische Flugblätter und entwarf Plakate, auf denen die kommunistischen Präsidenten Klement Gottwald und Antonín Zápotocký verspottet wurden. Die Staatssicherheit sah darin einen Aufruf zu Protesten gegen die Regierung. 1952 wird Dagmar Šimková nicht nur wegen der Flugblätter und Plakate verhaftet und angeklagt. Sie hatte auch zwei Freunde versteckt, die vom Wehrdienst desertiert waren und in den Westen flüchten wollten. Sie wird zu 15 Jahren Haft verurteilt, ihre Mutter muss als Mitwisserin elf Jahre ins Gefängnis. Was es in den 1950er Jahren in der Tschechoslowakei bedeutete, als politische Gefangene inhaftiert zu sein, erklärt der Jurastudent Lukáš Blažek. Er hat an einem Projekt teilgenommen, in dem Studenten der Karlsuniversität den Prozess gegen Dagmar Šimková aufgearbeitet haben:

„Die Tschechoslowakei hat sich zur Einhaltung ihrer eigenen Menschenrechte bekannt und auf Drängen der Vereinten Nationen auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterschrieben. Sie hielt sich aber nicht an die Menschenrechte. Im Gegenteil: Die politischen Gefangenen hatten überhaupt keine Rechte. Der Status ‚politischer Gefangener’, den es eigentlich geben sollte, existiere in Wahrheit nicht, die politischen Gefangenen genossen keinerlei Schutz. Sie waren in den Gefängnissen zusammen mit Kriminellen eingesperrt – so auch Dagmar Šimková, die im Frauengefängnis zusammen mit Mörderinnen, Verbrecherinnen und Prostituierten war.“

Lukáš Blažek und Anna Frantalová  (Foto: Jan Ptáček,  Tschechischer Rundfunk)
Anna Frantalová, ebenfalls Jurastudentin und Seminarteilnehmerin, ist mit 23 Jahren heute genauso alt wie Dagmar Šimková bei ihrer Verhaftung:

„Im Vergleich zu den anderen politischen Gefangenen, die schon 40 oder 50 Jahre alt waren, war sie so etwas wie das Küken im Frauengefängnis. Sie war ein unerfahrenes Mädchen, das gerade aus der Schule gekommen war. Sie hatte noch nicht einmal die Hochschule abgeschlossen. Deshalb denke ich, dass ihre moralische Überzeugung und ihr innerer Wille umso stärker gewesen sein müssen, weil sie noch so jung war.“

Dagmar Šimková: „Wir waren auch dort“
Dagmar Šimková war in verschiedenen Frauengefängnissen inhaftiert. 1955 kam sie in ein Arbeitslager im slowakischen Želiezovce. Über ihren Aufenthalt dort schreibt Šimková später:

„Es regnet jetzt schon den fünften Tag und wir können unsere durchnässten Uniformen nirgends trocknen. Offiziell ist schon Frühling und deswegen geben sie uns keine Kohlen mehr zum Heizen. Wir sammeln Reisig und Äste auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Wenn wir Glück haben, schaffen wir es, sie ins Lager zu transportieren und damit zu heizen. Wenn wir aber Pech haben, nehmen die Wächter sie uns weg und wir können kein Wasser kochen. Es zog ein Gewitter auf. ‚Arbeitet, Mädchen, arbeitet’, riefen die Wächter, die sich unter dem Wagen versteckt haben. Aber der Donner und der Wind sind noch lauter als ihre Befehle. An diesem Tag habe ich mich entschlossen, zu handeln.“

Pavlína Kourová  (Foto: Xantypa)
Tatsächlich gelingt Dagmar Šimková 1955 die Flucht aus dem Lager. Zwei Tage lang ist sie frei, bevor Arbeiter sie entkräftet in einem Feld finden und zurück ins Lager bringen. Von der großen Amnestie für politische Häftlinge im Jahr 1960 profitierte Šimková nicht. Das Ziel der Umerziehung, so hieß es in der Gefangenenakte, sei noch nicht erreicht. Die Gefangene zeige offen ihre Abneigung gegenüber dem kommunistischen Regime. Erst sechs Jahre später wird Dagmar Šimková entlassen. Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen im Jahr 1968 kann sie mit ihrer Mutter über Österreich nach Australien fliehen. Nach 18 Jahren sieht sie dort erstmals ihre Schwester wieder und beginnt ein neues Leben, erzählt die Historikerin Kourová:

„Als sie frei kam, war sie 37 Jahre alt, zwei Jahre später wanderte sie nach Australien aus. Sie war also schon 39. In diesem Alter schaffte sie es aber, noch einmal ein Studium beginnen, und zwar Kunstgeschichte und soziale Arbeit. Sie erlernte dort auch eine Technik, emaillierte Bilder zu malen. Sie hatte etwa 50 Ausstellungen. Die Bilder befinden sich heute in mehreren Ländern in privaten Sammlungen. Sie hatte aber noch mehr Berufe. Sie fing in einem orientalischen Restaurant an, wo sie in der Küche half, dann machte sie eine Ausbildung zur Stuntfrau – sie wollte zum Film. Als sie ihr Studium beendet hatte, war sie als Sozialarbeiterin tätig, in einem Gefängnis und in einem Altenheim.“

Jan Řeřicha
Außerdem wurde sie in Australien auch Autorin. In ihrem Buch „Byly jsme tam taky“, zu deutsch „Wir waren auch dort“, beschreibt sie, was sie in den Frauengefängnissen erlebt hat. Das Buch erschien als erstes 1980 in Kanada, im Verlag 68 Publishers, in dem auch andere tschechoslowakische Autoren publiziert wurden, die im Exil lebten. Im vergangenen Jahr kam die fünfte Auflage des Buchs heraus. Dem Theaterregisseur Jan Řeřicha, der mit Studenten der juristischen Fakultät den Fall Šimková aufgearbeitet und nachgespielt hat, diente es als Quelle. Der Regisseur war von Šimkovás Buch schockiert und beeindruckt:

„Mit ihrem Buch hat sie ein beeindruckendes Zeugnis abgelegt. Es ist literarisch ein ungewöhnlich starkes Buch, in dem sie über Frauen als politische Gefangene schreibt, über die kaum gesprochen wurde. Darüber ist nur sehr wenig bekannt. Doch die Zustände in den Frauengefängnissen – das sagen auch die männlichen Gefangenen – waren noch viel schlimmer als die in den Gefängnissen für Männer. Ich traue mich sogar zu sagen: Wenn sie noch leben würde, wäre sie für mich eine Kandidatin für den Nobelpreis.“

Zwar verbrachte Dagmar Šimková nach der Samtenen Revolution mehrmals einige Monate in ihrer tschechischen Heimatstadt Písek, traf ehemalige Mitgefangene und kämpfte um Restitutionsansprüche auf ihr Elternhaus. Sie kehrte aber immer wieder nach Australien zurück, wo sie 1995 starb. Für die Studenten, die sich mit dem Fall Šimková befasst haben, ist die ehemalige politische Gefangene heute eine moralische Heldin:

„Dagmar Šimková ist für uns ein großes Vorbild, weil sie die Hoffnung nicht verloren hat, weil sie nicht aufgehört hat, gegen das Regime zu kämpfen. Sie stand zu ihrer Meinung, obwohl sie wusste, dass sie dafür bestraft werden wird.“

Aus juristischer Sicht ist der Fall Dagmar Šimková kein besonders spektakulärer. Anders als die Opfer der großen Schauprozesse in den fünfziger Jahren ist sie nicht in die Geschichtsbücher eingegangen. In Tschechien ist Šimková heute relativ unbekannt. Dabei sei es wichtig, an die Geschichte Šimkovás zu erinnern, findet die Historikerin Kourová:

„Wir können uns die Grausamkeit des kommunistischen Regimes besser vorstellen, wenn wir das Beispiel einer einzelnen Person betrachten: eines 23-jährigen Mädchens, dessen Leben zerstört wurde. Eine junge Frau, die 14 Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbracht hat, die Zeit, in der sie eine Familie und Kinder hätte haben können.“

Und noch etwas spricht dafür, sich mit Einzelschicksalen zu beschäftigen anstatt mit Statistiken: Es gibt schlicht keine Zahlen, die Auskunft darüber geben, wie viele politische Gefangene zwischen 1948 und 1989 inhaftiert waren. Belegt ist laut dem Institut für das Studium totalitärer Regime nur, dass 1990 etwa 264.000 politische Gefangene rehabilitiert wurden.