„Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit“ – Ein Botschaftsflüchtling von 1989 berichtet

DDR-Flüchtlinge in Prag

Matthias Kiep war 1989 einer der Tausenden Botschaftsflüchtlinge, die über die westdeutsche Botschaft in Prag aus der DDR ausgereist sind. Die Ereignisse vom 30. September 1989 jährten sich in der vergangenen Woche zum 35. Mal, und anlässlich des Jahrestages fand in der deutschen Botschaft ein großes Fest statt. Radio Prag International hat den Zeitzeugen zu dieser Gelegenheit vors Mikrophon gebeten.

Herr Kiep, Sie sind 1989 als Botschaftsflüchtling über die Prager Botschaft in den Westen gereist. Warum? Was war der ausschlaggebende Punkt, dass Sie die DDR verlassen haben?

„Ich war damals 18 Jahre alt und kam aus einer Familie, die nicht sehr staatsloyal war. Die Kommunisten waren aus der Sicht meines Vaters Verbrecher. Sie hatten seine Familie enteignet, und er war dem DDR-Regime gegenüber sehr kritisch. Das haben wir als Kinder – ich habe drei ältere Brüder – mitbekommen. Wir waren zum Beispiel die einzigen Kinder, die nicht die Jugendweihe machten, also das Gelöbnis auf den sozialistischen Staat, das mit 14 Jahren anstand. In der Schule waren wir Einzelgänger. Später durften wir nicht das Abitur machen, nicht die Berufe wählen, die uns interessierten. Ich habe also als 18-Jähriger mitbekommen, welcher Weg da vor mir lag, und mich entschieden, dieses Zeitfenster, das sich gerade öffnete, diese Chance, zu nutzen. Also machte ich mich auf nach Prag.“

Sind Sie alleine gefahren oder mit anderen zusammen? Und wie haben Ihre Eltern damals darauf reagiert? Mit 18 Jahren waren Sie ja doch noch recht jung. Haben Sie Ihren Eltern vorher Bescheid gesagt?

Botschaftsflüchtlinge aus der DDR in Prag | Foto: Blanka Lamrová,  Archiv der deutschen Botschaft in Prag

„Nein, meine Eltern hätten das niemals zugelassen. Ich bin damals mit meiner ebenfalls 18-jährigen Freundin los. Ich entschied, wann wir gingen, und sie, wohin, falls wir nicht im Knast landen sollten. Ich habe mir aber vorab die Genehmigung meiner drei älteren Brüder eingeholt. Ich habe ihnen gesagt, dass ich diesen Weg gehen möchte und sie gefragt, ob das für sie okay ist. Denn ich wusste, dass sie es sind, die meine Flucht ausbaden müssten. In dem Moment habe ich habe erfahren, was Bruderliebe ist. Sie meinten: ‚Geh, Kleiner, wenn du hier nicht leben kannst, dann geh!‘ Ich habe mich also klammheimlich auf den Weg gemacht. Meine Mutter hatte das aber bereits geahnt. Denn als im Fernsehen die Bilder aus Ungarn kamen, wo die Grenze aufgemacht wurde, sah sie, wie ich heulend am Tisch saß. An dem Abend, als ich mein Elternhaus verließ, hatte mein Vater gerade seine Skatrunde da. Traditionell gab es dabei immer Schnittchen von der Mama – sowohl für die Spieler, als auch für die Kinder. Sie reichte mir einen Teller, ich griff hin, und dann fasste sie meine Hand und sagte: ‚Das ist jetzt wohl deine Henkersmahlzeit.‘ Ihre Augen waren aufgeschwollen, sie heulte Rotz und Wasser. Aber sie schwieg und ließ mich gehen. Mein Vater erfuhr es dann aus der ARD. Denn meine Eltern waren bei einem Geburtstag eingeladen, und in den Nachrichten kamen Bilder aus Prag. Und plötzlich sagte mein Onkel zu meinem Vater: ‚Guck mal, das ist doch Matthias!‘ So stellte mein Vater also fest, dass ich nicht bei meiner Freundin bin, sondern in Prag.“

Wie sind Sie hier in Prag angekommen?

„Mit dem Zug. Aus dem sind bestimmt 20 Prozent Menschen an der tschechischen Grenze herausgeholt worden. Die Grenzsoldaten kamen mit Maschinengewehren und scharfen Schäferhunden herein. Aber wir fuhren bis Prag. Am Bahnsteig, so unsere Vermutung, war schon viel Stasi, die auch versuchte, Leute abzufangen. Wir sind dann wirklich gerannt und haben versucht, mit einem Pärchen, das wir im Zug kennengelernt hatten, ein Schwarztaxi zu nehmen. Die Fahrer riefen schon immer ‚Botschaft, Botschaft!‘. Wir sind mit einem Hechtsprung in das Auto rein, weil die Stasi uns auf den Fersen war und schon den Arm meiner Freundin hatte und sie herausziehen wollte. Aber mit einem Tritt konnten wir uns befreien und sind mit offenen Türen und quietschenden Rädern Richtung Botschaft gefahren. Das Gebiet war relativ voll mit abgestellten Trabis und anderen Autos. Wir haben dann ausländische Kamera-Teams gebeten, uns auf dem Weg von der wunderschönen Barockkirche in Richtung Botschaft zu begleiten. Denn wir hatten Angst, dass wir auf den letzten hundert Metern noch von der Stasi abgefangen werden. Wir waren ein Pulk von 20 bis 25 Leuten, haben uns aneinander festgeklammert. Als wir an der Botschaft ankamen, kletterten wir dann über den Zaun hinein.“

Wann war das? Wann kamen Sie in der Botschaft an?

Hans-Dietrich Genscher und Jiří Dienstbier | Foto: ČT24

„Wir waren insgesamt nur zwei Tage hier. Am 28. September kamen wir an. Und dann kam zwei Tage später der Herr Genscher (Hans-Dietrich Genscher, damaliger Außenminister der Bundesrepublik, Anm. d. Red.).“

Die Emotionen, die Sie da gefühlt haben, waren sicherlich der Wahnsinn...

„Jeder kennt ja diese Bilder. Im Kuppelsaal der Botschaft laufen heute Aufnahmen von damals. Ich muss noch heute heulen. Selbst nach 35 Jahren lässt einen das nicht los. Das ist Teil der eigenen Geschichte, das ist deutsche Geschichte und letztendlich auch europäische Geschichte. Wenn man da sozusagen selbst dabei war, hat man ganz besonders intensive Gefühle. Es war eigentlich alles so, wie es sich auf den Bildern anfühlt und anhört.“

Mit welchem Zug sind Sie ausgereist? Gleich mit dem ersten oder erst mit einem der späteren Züge?

„Der erste war es nicht, sondern einer der späteren. Die Züge sind kurz hintereinander gestartet. Ich kann Ihnen nicht sagen, der wievielte es war.“

Wie war das für Sie, in diesen Zug zu steigen, der ja auch über DDR-Gebiet fuhr? Hatte man da Bedenken, dass noch irgendetwas schiefgeht?

Hans-Dietrich Genscher  | Foto: Radio Prague International

„Wenn Herr Genscher nicht zugesichert hätte, dass führende Persönlichkeiten, Mitarbeiter der Botschaft und des Auswärtigen Amtes, die Züge begleiten, wären die Leute vermutlich nicht eingestiegen, weil die Angst einfach zu groß war, dass die Stasi oder die damalige DDR-Führung dem ganzen Spuk ein Ende bereitet und die Züge einfach stürmt. Erst als klar war, dass wir namentlich erfasst worden sind, dass unsere Identität sichergestellt war, und auch die Zusage da war, dass sich die Bundesrepublik Deutschland darum kümmern werde, sollte uns etwas passieren, erst dann sind die Leute eingestiegen. Wir sind dann durch die DDR gefahren, und was wir da gesehen haben, berührt mich heute fast noch mehr als die Genscher-Rede auf dem Balkon der Botschaft. Viele Leute versuchten, die Züge zu erreichen, von Brücken auf die Züge zu springen. Die Polizei hatte die Brücken deshalb geräumt und abgesperrt, Panzerwagen standen auf den Überführungen. Man hat gesehen, wie die Staatsmacht die Bevölkerung von den Brücken wegprügelt, um die Leute abzuhalten. In Dresden hingen Bettlaken an den Häusern, darauf stand ‚Alles Gute in der Freiheit!‘. Als wir in Hof ankamen, kam ein Kamerateam auf uns zu. Man fragte mich, wie wir die Reise über Prag erlebt haben, und ich sagte in die Kamera: ‚So, wie ich die DDR 18 Jahre lang erlebt habe – prügelnd, diktatorisch, menschenverachtend, eben wie eine Diktatur ist.‘ Das ist gesendet worden. Aber nicht nur meine Eltern haben den Bericht gesehen, sondern dummerweise auch die Stasi und Menschen, die uns kannten. Aufgrund dieser Aussage haben meine Eltern dann tatsächlich noch Anfang Oktober Stasi-Besuch in ihrer Wohnung bekommen.“

Wie war es dann für Sie, kurz später die Wende vom Westen aus zu erleben? Wie war es, in dem Moment nicht bei der Familie zu sein?

Ich saß dann nächtelang vor dem Fernseher, habe spontan Urlaub genommen, Rotz und Wasser geheult und war voller Freude.

„Ich war zu dem Zeitpunkt gerade seit sechs Wochen im Rhein-Main-Gebiet. Wir hatten zwar eine Wohnung, aber noch keinen Fernseher. Und ich habe es einfach nicht mitbekommen. Ich habe mich nur gewundert, warum plötzlich so viele Trabis und Wartburgs in Wiesbaden herumgefahren sind. Bis mich meine Arbeitskollegen – wir hatten schon einen Job – fragten, wie ich mich denn so fühle. Sie legten dann zusammen und kauften mir einen Fernseher, damit ich nachvollziehen konnte, was da passiert. Ich saß nächtelang vor dem Fernseher, habe spontan Urlaub genommen, Rotz und Wasser geheult und war voller Freude. Dann kündigte sich auch gleich meine Familie an, sie kam Anfang Dezember nach Wiesbaden und besuchte mich. Das war fantastisch, absolut fantastisch. Ich habe dann meine Brüder regelmäßig gesehen. Und wir haben das gemacht, was wir vorher nicht durften, nämlich das Abitur. Und auch das Studium haben wir nachgeholt. Von daher hat sich für uns alles in Wohlgefallen aufgelöst.“

Sind Sie dann im Westen geblieben oder in die ehemalige DDR zurückgegangen?

„Ich habe in Wiesbaden gewohnt, in Mainz studiert und in Frankfurt angefangen zu arbeiten. Mittlerweile habe ich zwei Drittel meines Lebens im Rhein-Main-Gebiet verbracht, das ist einfach meine Heimat. Ich bin gerne noch in Magdeburg, meine Eltern liegen dort begraben, mindestens einmal im Jahr führt es mich dort hin. Aber mein Zuhause ist Frankfurt und das Rhein-Main-Gebiet.“

Wie ist es für Sie, jetzt wieder in der Botschaft zu sein? Waren Sie in den letzten Jahren schon einmal hier – oder generell in Prag?

„Für mich ist Prag eine der schönsten Städte der Welt. Aktuell bin ich, glaube ich, das zehnte Mal hier. Ich liebe diese Stadt. Alle fünf Jahre komme ich zu diesem Botschaftsempfang, weil mich das daran erinnert, dass die Demokratie nicht garantiert ist. Sie muss hart erarbeitet und erkämpft werden. Wenn ich hier bin, erinnere ich mich immer wieder daran. Und gerade nach den letzten Landtagswahlen, die wir jetzt in einigen der neuen Bundesländer hatten, bin ich ganz besonders sensibilisiert dafür. Die Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Wir haben sie durch einen glücklichen Umstand der Geschichte gewonnen, und wir müssen aufpassen, dass sie uns erhalten bleibt.“

Deutsche Botschaft Prag | Foto: Václav Bacovský,  Deutsche Botschaft Prag
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