Der 17. November 1939
Im nun folgenden Kapitel aus der tschechischen Geschichte wirft Katrin Bock einen Blick auf die Ereignisse im Herbst 1939 - damals fanden im Protektorat Böhmen und Mähren die letzten großen Demonstrationen gegen die deutschen Besatzer statt.
Im Vorfeld des 28. Oktobers warnte die Protektoratsregierung vor der Teilnahme an Demonstrationen. Im Rundfunk wurde die Bevölkerung aufgerufen, sich an keinerlei Aktionen zu beteiligen:
"Wenn es der Wunsch des Staatspräsidenten und der Regierung ist, dass der 28. Oktober ein Tag der Arbeit, der nationalen Disziplin und der Ruhe sein soll, so sollten Sie sich entsprechend dieser Wünsche verhalten. Es handelt sich dabei nur um einen weiteren Schritt auf dem Weg, der das Volk aus dem Verhängnis und der Leiden führen wird."
Trotz aller Warnungen folgten Hunderte dem Aufruf, am 28. Oktober in Sonntagskleidung in das Prager Stadtzentrum zu kommen. Zunächst verlief die Demonstration friedlich, wie sich der heute 87 jährige Jakub Cermin erinnert:
"Die Leute wollten öffentlich sagen, dass wir mit dem Zerfall der Republik nicht zufrieden sind. Das war keine großemDemonstration. Wir wollten sagen, dass wir keine Unterdrückung wollen und dass wir wieder unsere Selbständigkeit wollen, es war keine gewaltige Revolution."
Doch bereits am Mittag kam es zu ersten Ausschreitungen zwischen deutschen Studenten und Tschechen. Zudem rissen empörte Tschechen deutsche Aufschriften von Geschäften und Straßenbahnen und riefen antideutsche Parolen. Dies beunruhigte die deutschen Besatzer, da sie nicht mit so großen antideutschen Protestaktionen gerechnet hatten. Die Protketoratsleitung forderte die tschechische Polizei, die mit den Demonstranten sympathisierte, auf, dem Treiben ein Ende zu setzen. Dem Sicherheitschef und SS Gruppenführer Karl Herman Frank war das Vorgehen der tschechischen Polizei nicht hart genug und so gab er der deutschen Ordnungspolizei den Befehl einzugreifen. Im Gegensatz zu ihren tschechischen Kollegen machten diese Gebrauch von Schusswaffen. Der Arbeiter Vaclav Sedlacek wurde tödlich getroffen. Unter den 15 Schwerverletzten dieses Tages war auch der 23jährige Medizinstudent Jan Opletal. Am 11. November 1939 erlag der Student in einem Prager Krankenhaus seiner Schussverletzung. Jan Opletal wurde zu einem Märtyrer unter seinen Kommilitonen. Für den 15. November, den Tag seines Begräbnisses, beantragten die Studenten die Erlaubnis für einen Trauermarsch durch die Prager Innenstadt. Überraschenderweise gestattete die Protektoratsleitung diesen. Historiker vermuten, dass die deutschen Besatzer eventuelle Ausschreitungen als Vorwand für die bereits geplante Schließung der tschechischen Hochschulen missbrauchen wollten. Die Rechnung ging auf. Während des Trauerzugs, an dem einige Tausend Studenten teilnahmen, kam es zu Ausschreitungen. Die tschechische Polizei griff ein.SS-Gruppenführer Karl Hermann Frank, der bereits am 28. Oktober ein härteres Vorgehen der Polizei gefordert hatte, und Reichsprotektor Konstantin von Neurath flogen nach der Studentendemonstration vom 15. November nach Berlin, um mit Hitler persönlich das weitere Vorgehen im Protektorat abzusprechen. Hitler drohte, bei weiteren antideutschen Aktionen Prag den Erdboden gleichmachen zu wollen. Vorerst ordnete er die Schließung der tschechischen Hochschulen für eine Dauer von drei Jahren an. Die Bestrafung der Studenten fiel hart aus.
"Am 17. November wurden alle Hochschulen geschlossen, neun Studentenführer wurden erschossen ohne Gericht und 1.200 Studenten aus Mähren, Prag und anderen Städten, wo Hochschulen waren, wurden in das KZ Sachsenhausen gebracht. Und ich war dabei"Am 17. November hing folgende Bekanntmachung auf rotem Papier in den Strassen des Protektorats:
"Trotz wiederholter ernster Warnungen versucht seit einiger Zeit eine Gruppe tschechischer Intellektueller in Zusammenarbeit mit Emigrantenkreisen im Ausland durch kleine und größere Widerstandsakte die Ruhe und Ordnung im Protektorat zu stören. Es konnte dabei festgestellt werden, dass sich die Rädelsführer besonders auch in den tschechischen Hochschulen befinden. Da sich am 28. Oktober und am 15.November diese Elemente hinreißen ließen, gegen einzelne Deutsche tätlich vorzugehen, wurden die tschechischen Hochschulen für die Dauer von drei Jahren geschlossen, neun Täter erschossen und eine größere Anzahl in Haft genommen."
Der damals 22jährige Jurastudent Jakub Cermin erinnert sich an seine Verhaftung am frühen Morgen des 17. Novembers 1939:
"Wir dachten, die Deutschen wollen nur ihre Macht demonstrieren, keiner wurde verurteilt. Wir dachten, wir können nach drei Wochen wieder zurück. Aber es war so, wie Hitler es angeordnet hatte, wir wurden drei Jahre eingeschlossen. Wir haben damit nicht gerechnet, das war die größte Überraschung. Auf einmal waren wir im KZ. Für uns war das schrecklich."
Von den 1.200 tschechischen Studenten überlebten mindestens 20 die Torturen des KZs Sachsenhausen nicht. Die anderen wurden im Verlauf von drei Jahren auf Drängen der Protektoratsregierung freigelassen. Die tschechischen Hochschulen blieben bis Kriegsende geschlossen, während die deutsche Universität in Prag im November 1939 feierlich zur Reichshochschule erklärt wurde und bis Mai 1945 ihren Betrieb nicht einstellte. Jakub Cermin kehrte nach zweieinhalb Jahren KZ-Haft nach Prag zurück, wo er bis Kriegsende lebte. Viele Studenten flohen in den Westen und schlossen sich dort tschechoslowakischen Einheiten an. Im November 1940 strahlte die BBC in ihren tschechischen Sendungen eine Aufnahme tschechoslowakischer Studenten aus, denen die Flucht in den Westen gelungen war. Von dieser Aufnahme, in der die Studenten an die Geschehnisse des Herbstes 1939 erinnerten, hörten Sie bereits einige Ausschnitte.
Der Protektoratspräsident Emil Hacha rief am 18. November 1939 seine Mitbürger zu Ruhe und Besonnenheit auf:
"Liebe Mitbürger, ich spreche zu Euch in einer außergewöhnlichen Zeit des Krieges, die von jedem einzelnen Disziplin und Verantwortungsgefühl erfordert. In den letzten Tagen kam es zu Ereignissen, die unsere nationale Sache schwer bedrohen. Der Lebensraum des tschechischen Volkes bildet einen Keil im Lebensraum des deutschen Volks. Wir müssen alle begreifen, was daraus für uns resultiert. Das Gebiet des Tschechischen Volks wurde von Kriegshandlungen verschont, über deren vernichtende Wirkung die Niederlage Polens Zeugnis abgibt. Ich rufe Sie, gemeinsam mit der Regierung so eindringlich wie möglich auf, jegliche Störung der Ruhe und des Friedens zu vermeiden. Mit sinnlosem Widerstand und unverantwortlichen öffentlichen Äußerungen kann man nichts erreichen, aber viel verlieren. Seien Sie überzeugt, dass Ihr Präsident und die Regierung sich für die Sache des tschechischen Volkes so einsetzen, wie es am besten ist."
Es scheint, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Worte ihres Präsidenten befolgten. Die Demonstrationen vom 28. Oktober und 15. November 1939 waren die letzten großen Kundgebungen der Tschechen gegen die deutschen Besatzer. Deren hartes Vorgehen gegen die tschechischen Studenten rief nicht nur im Protektorat Entsetzen hervor, sondern auch im westlichen Ausland. Der 17. November wurde bereits 1941 zum internationalen Tag der Studenten erklärt. Nach der Machtergreifung der Kommunisten in der Tschechoslowakei 1948 missbrauchten diese die Ereignisse des Novembers 1939 für ihre Zwecke. Die Helden waren nun Kommunisten, über die Studenten und deren nichtkommunistische Führer, die am 16. November hingerichtet wurden, wurde geschwiegen. Viele der Studenten des 17. Novembers wurden wegen ihrer politischen Überzeugung in den 1950er Jahren zu jahrelangen Gefängnisstrafen verurteilt oder konnten ihre Berufe nicht ausüben. Erst nach 1989 wurden sie rehabilitiert.