Der 17. November 1989 und seine Vorgeschichte
Bestimmt erinnern Sie sich noch an die Bilder des Novembers 1989: tausende von Menschen auf dem Prager Wenzelplatz demonstrierten für ein unblutiges und schnelles Ende des Sozialismus in der CSSR. Im nun folgenden Kapitel aus der tschechischen Geschichte wirft Katrin Bock einen Blick auf die Geschehnisse, die vor 15 Jahren zum Sturz der kommunistischen Regierung in Prag führten.
Am 21. August 1988, dem 20. Jahrestag des gewaltsamen Endes des Prager Frühlings, fand erstmals seit 1969 eine antistaatliche Demonstration im Prager Stadtzentrum statt. Die Regierung ging damals hart gegen die Demonstranten vor. Doch der Wille zum öffentlichen Protest, der einmal geweckt war, konnte nicht mehr unterdrückt werden. Am 28. Oktober, dem 70. Staatsgründungstag der Tschechoslowakei, demonstrierten erneut Hunderte im Stadtzentrum von Prag für politische Veränderungen.
Im Januar 1989 folgte ein weiterer runder Jahrestag: 20 Jahre zuvor hatte sich der Student Jan Palach aus Protest gegen den Einmarsch von Warschauer Pakt-Truppen selbst verbrannt. Nun kamen Dutzende von mutigen Bürgern auf den Prager Wenzelplatz, um mit Blumen an Palach zu erinnern. Die Parteizeitung Rude Pravo kommentierte das Geschehen damals im gewohnten Stil:"Auf dem Wenzelplatz in Prag haben am Sonntag einige staatsfeindliche Elemente versucht, eine bereits seit längerem von diversen ausländischen Zentren und westlichen Radiosendern vorbereitete Provokation durchzuführen. Die Angehörigen der Ordnungseinheiten der Öffentlichen Sicherheit gingen entschieden gegen die Provokateure und ihre geplante Aktion vor."
Diesmal ließen sich die Bürger nicht einschüchtern: eine Woche lang kamen jeden Tag mehr Menschen mit Blumen auf den Wenzelplatz. Vaclav Havel beschrieb später die dortige Atmosphäre:"Ich traute meinen Augen nicht, weil etwas geschah, was mir selbst nicht im Traum einfallen würde. Der völlig überflüssige Einsatz von Polizisten gegen die, die in Ruhe Blumen niederlegen wollten, formte aus zufällig Vorbeigehenden plötzlich eine demonstrierende Menge. Plötzlich wurde mir bewusst, wie tief die Unzufriedenheit der Bürger sein musste, damit dies geschehen konnte."
Vaclav Havel wurde Anfang Februar 1989 im Zusammenhang mit der Palach-Woche zu acht Monaten Haft wegen antistaatlicher Hetze verurteilt. Innerhalb von nur sechs Wochen unterschrieben über 2.000 Tschechen eine Petition für seine Freilassung - so etwas hatte es in der Tschechoslowakei noch nicht gegeben! Als auch der Druck aus dem Ausland zunahm, blieb der Regierung nichts anderes übrig, als Havel im Mai vorzeitig aus der Haft zu entlassen.Ende Februar 1989 feierten die Kommunisten noch in alt gewohnter Weise den 41. Jahrestag ihrer Machtergreifung. Aus diesem Anlass veröffentlichte das Zentralkomitee folgende Erklärung:
"Es lässt sich nicht übersehen, dass sich insbesondere in den letzten Monaten in unserer Gesellschaft Kräfte aktivieren, deren Ziel nicht das Wohl der sozialistischen Gesellschaft und der Werktätigen ist. Sie versuchen mit Hilfe einiger politischer Kreise des Westens, Aktionen zu organisieren, mit dem Ziel, die Verhältnisse zu destabilisieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Prozess der Perestrojka vereitelt und die Demokratisierung missbraucht wird."
Die tschechoslowakische Parteiführung interpretierte die Perestrojka rein wirtschaftlich. Von politischen und gesellschaftlichen Veränderungen wie in Polen, Ungarn und sogar der Sowjetunion wollte man der Moldau nichts wissen. Bisher hatte nur eine geringe Anzahl unzufriedener Bürger ihrem Unmut Ausdruck verliehen. Dies änderte sich im Sommer 1989 mit dem Manifest "Einige Sätze". In diesem wurden unter anderem die Freilassung politischer Gefangener, Versammlungsfreiheit, Glaubensfreiheit sowie eine größere Pressefreiheit gefordert. Bis Ende September unterschrieben 30.000 Menschen diese Petition. Die Regierung reagierte mit einer hysterischen Pressekampagne. In der Parteizeitung Rude pravo war zu lesen:
"Es handelt sich dabei um einen Aufruf zum Ausverkauf des Sozialismus. Es geht darum, dass die Kräfte, die im Dienste unserer Feinde stehen, einen Teil der Gesellschaft gewinnen wollen und mit diesem auch angesehene Künstler."
In der Tat unterzeichneten das Manifest "Einige Sätze" nicht nur Dissidenten, sondern auch bekannte Künstler, Sänger und Schauspieler, die bisher politisch nicht aus dem Rahmen gefallen waren. Damit hatte der Bürgerprotest eine neue Dimension erhalten.
Am 21. August 1989, dem 21. Jahrestag der gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings, gingen erneut Tausende auf die Strasse. Der Unmut der Bevölkerung mit dem sozialistischen System wuchs. Während in Polen der erste nichtkommunistische Premier in Osteuropa ernannt wurde und in Ungarn am runden Tisch Gespräche über freie Wahlen stattfanden, schien sich an der Moldau nichts zu ändern.
Seit August 1989 spielte sich auf der Prager Kleinseite das Drama der DDR-Flüchtlinge in der Bundesdeutschen Botschaft ab. Auf die Prager Bürger machte dies Eindruck. "Jetzt regen sich sogar schon die Deutschen.", dachten viele. Ihre Freude über die erlaubte Ausreise der DDR-Bürger in den Westen verbargen nur wenige. Die Prager Regierung jedoch ignorierte weiterhin die Zeichen der Zeit. Am 28. Oktober, dem Staatsgründungstag der Tschechoslowakei demonstrierten erneut Tausende für politische Veränderungen. Zehn Tage später verlor Prag seinen letzten internationalen Verbündeten: die Berliner Mauer war offen. Für den 17. November war zum 50. Jahrestag der Schließung der tschechischen Hochschulen durch die deutschen Besatzer eine weitere Demonstration angekündigt. Auf einen Flugblatt, das zu dieser einlud, war zu lesen:
"Am 17. November gedenken wir der tragischen Ereignisse, zu denen es im Zusammenhang mit dem Begräbnis des Studenten Jan Opletal im November 1939 kam. Wir wollen nicht nur pietätvoll an die damaligen Ereignisse erinnern, sondern wollen uns aktiv zu den Idealen der Freiheit und Wahrheit bekennen. Denn auch heute sind diese Ideale bedroht."Eingeladen hatten zu der offiziell erlaubten Demonstration am 17. November 1989 sozialistische und unabhängige Studentengruppen. Gegen Abend näherte sich der immer größer werdende Demonstrationszug dem Stadtzentrum.
In der Narodni Straße gingen dann Polizeieinheiten mit aller Härte gegen tausende friedlich Demonstrierende vor. Die offiziellen Medien kommentierten wie gewohnt:"Nach letzten Informationen versuchten einige Elemente die Gedenkfeier zu antisozialistischen Aktionen zu missbrauchen. Die öffentliche Sicherheit sorgte für die Gewährung der Ruhe im Stadtzentrum und überführte einige hundert Personen auf örtliche Polizeibehörden. Nach 22 Uhr kehrte wieder Ruhe in die Straßen ein."
Die Bürger waren empört - 50 Jahre nach der brutalen Gewalt der deutschen Besatzer ließ nun die kommunistische Regierung wehrlose Studenten verprügeln. Studenten und Schauspieler traten in einen unbefristeten Streik. Am 19. November wurde das Bürgerforum gegründet - von nun an überstürzten sich die Ereignisse. Jeden Tag versammelten sich mehr Menschen auf dem Prager Wenzelplatz - bald waren es 100.000. Es ist schwer, alle Ereignisse und Entscheidungen der Woche vom 20. bis 27. November 1989 zu rekonstruieren. Vieles geschah spontan, über viele Verhandlungen existieren keine schriftlichen Materialien und so lässt sich manchmal nur erahnen, wie es zu diesem schnellen und unblutigen Ende des Sozialismus in der Tschechoslowakei kam.Bereits vier Tage nach der Studentendemonstration verhandelten Regierung und Opposition am runden Tisch. Am 24. November trat die Führung der Kommunisten Partei zurück. An jenem Abend wurde in den Prager Strassen ein Volksfest gefeiert - der Sieg der Opposition war gewiss. Am 10. Dezember ernannte Präsident Gustav Husak eine neue Regierung, in der die Mitglieder des Bürgerforums die Mehrheit stellten. Am gleichen Tag legte der letzte Arbeiterpräsident der Tschechoslowakei sein Amt nieder. Am 29. Dezember 1989 wählte das tschechoslowakische Parlament Vaclav Havel zum neuen Präsidenten.