Der 28. Oktober 1918
Der 28. Oktober ist der tschechische Nationalfeiertag. An diesem Tag wurde im Jahre 1918 in Prag die Unabhängigkeit des tschechoslowakischen Staates ausgerufen. So steht es in den Lehrbüchern und Kalendern. Doch wie sieht so ein Tag aus, an dem ein neuer Staat entsteht? Wie erlebten die Bewohner der Böhmischen Länder diesen 28. Oktober 1918? Lassen Sie uns also heute einen Blick auf jenen ereignisreichen Oktobertag vor 84 Jahren werfen.
Die tschechischen Zeitungen spekulierten Ende Oktober 1918 bereits über ein baldiges Kriegsende, Frontverlauf und Schlachten sowie Meldungen über politische Verhandlungen füllten die ersten Seiten der Blätter. Doch auch zwei andere Themen beschäftigten damals die Tschechen: die herrschende Grippeepedemie und der Kohlenmangel. In der sozialdemokratischen Zeitung Pravo lidu konnte man damals u.a. lesen:
"Einer Familie reichen die zugeteilten 15 kg Kohle pro Woche einfach nicht. Wir fordern eine Erhöhung der regelmässigen Zuteilung auf mindestens 60 kg pro Woche"
In den Prager Zeitungen erschienen täglich Meldungen über Kohlenklau und Überfälle auf Kohlenwagen. In den letzten Wochen des Ersten Weltkriegs forderte die spanische Grippe in den Böhmischen Ländern hunderte Opfer. In der Zeitung war u.a. folgender Artikel zu lesen:
"Die spanische Grippe wütet in Chrudim, in der dortigen Fabrik von Herrn Popper sind 150 Krankheitsfälle. Jeden Augenblick läutet die Totenglocke - sie läutet nicht nur für einen sondern gleich für mehrere Tote."
In dieser Zeit des Krieges, des Hungers und der Kälte, der Krankheiten und anderer Sorgen entstand die Tschechoslowakei. Aber wie entsteht ein neuer Staat eigentlich ? Im Falle der Tschechoslowakei scheint es einfach gewesen zu sein:
Am Nachmittag des 28. Oktober 1918 verkündete ein tschechischer Politiker im Prager Stadtzentrum die Unabhänigkeit des Staates, am Abend wurde das erste Gesetz und ein Aufruf an das Volk formuliert, am nächsten Tag stand alles in der Zeitung: ein neuer Staat erschien auf der Landkarte, allerdings hatte er noch keine festen Grenzen, aber das störte in jenen Stunden der Euphorie niemanden.
Ganz so einfach war die Staatsgründung natürlich nicht. Der Unabhängigkeitsausrufung in Prag waren Jahre der Verhandlungen vorausgegangen. Tschechische und slowakische Exilpolitiker wirkten während des Ersten Weltkriegs bei den westlichen Allierten sozusagen als Lobbyisten für einen selbstädnigen tschechoslowakischen Staat. Im Oktober 1918 stellte sich endlich der Erfolg ein: der österreichische Kaiser war bereit, mit den westlichen Allierten einen Separatfrieden abzuschliessen und die Forderungen nach mehr Rechten für die slawischen Völker der Monarchie anzuerkennen. Am Abend des 27. Oktobers 1918 sandte der österreichische Aussenminister eine Note an den US-amerikanischen Präsidenten Wilson. In dieser hiess es unter anderem:
"Da Österreich-Ungarn alle Bedingungen akzeptiert, die Herr Präsident Wilson als Voraussetzung für Verhandlungen über einen Waffenstillstand gestellt hat, steht der Aufnahme dieser Verhandlungen nach Ansicht der österreich-ungarischen Regierung nichts mehr im Wege."
In Prag interpretierte man die Note Wiens an Präsident Wilson auf eigene Art:
"Österreich-Ungarn bietet Separatfrieden an, Bedinungslose Kapitulation"
lauteten die Überschriften der Sonderausgaben der Zeitungen am 28. Oktober. Die Redaktion der Narodni Politika erhielt als erste den Wortlaut der Note. Darauf hängte man ein grosses Schild an das Redaktionsgebäude: "Waffenstillstand". Nach erneuter Lektüre war man sich allerdings nicht mehr sicher, ob die Note dies wirklich bedeutete, also schrieb man mit Hand darunter: "Weitere Nachrichten folgen" - doch die Geschichte nahm bereits ihren Lauf: Menschenmassen strömten auf die Prager Strassen, erste deutsche Schilder wurden entfernt, die Menschen begannen, die tschechoslowakische Trikolore am Revers zu tragen. Die Männer des sog. Nationalausschusses fühlten, dass ihre Stunde gekommen war: Waffenstillstand oder nicht: am Nachmittag desselben Tages riefen sie die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei aus. Richard Weiner beschrieb in einem Feuilleton für die Lidove Noviny den Tag in Prag:
"Mein Freund erwähnte so zwischendurch, er habe in der Strassenbahn gehört, wie jemand sagte, dass Österreich kapituliert haben soll. "Gehen wir in die Stadt" beschlossen wir. Auf den Strassen in Dejvice herrschte Ruhe "So sieht kein histroischer Tag aus, die Leute gehen viel zu langsam". Wir näherten uns dem Zentrum, irgendwas tat sich hier. Eine Sonderausgabe der Zeitung Narodni Listy: Österreich erkennt die Bedingungen Wilsons an, insbesondere die der Südslawen und Tschechoslowaken... Vor dem Redaktionshaus der Narodni Listy weitere Sonderausgaben. Von allen Seiten ertönen "Ahs" und "Ohs", "Mein Gott" und "Endlich"!
Der Journalist Jan Hajsman schrieb am Abend des 28. Oktobers 1918 fogendes in sein Tagebuch:
"Ich bin nicht fähig, klare Gedanken zu fassen. Dauernd geht mir eines durch den Kopf: heute früh bin ich als Untertan Österreichs aufgestanden, nun bin ich Bürger eines freien tschechoslowakischen Staates. Wie seltsam ist dies! Ein Märchen, ein Wunder!"
Eigentlich war das Volk seinen Führern zuvorgekommen. Die Menschenmassen sangen in Prag bereits die zukünftige tschechische Hymne, als die Politiker des Nationalausschusses noch über zu ergreifende Schritte diskutierten. Am Nachmittag erklärte schliesslich einer von ihnen auf dem Prager Wenzelsplatz die Unabhängigkeit des tschechoslowakischen Staates mit folgenden Worten:
"Der tschechoslowakische Nationalausschuss verkündet Ihnen, dass der freie und selbstständige tschechoslowakische Staat Wirklichkeit geworden ist. Nach 300 Jahren sind wir wieder frei."
Gegen 18 Uhr wurde das erste Gesetz des neuen Staates sowie ein Aufruf an das Volk öffentlich verkündet:
"Tschechoslowakisches Volk! Dein uralter Traum ist Wirklichkeit geworden. Der tschechoslowakische Staat ist am heutigen Tag in die Reihe der selbstständigen Kulturstaaten der Welt getreten."
Während die Tschechen in Prag jubelten und bis in die Nacht feierten, erfuhren die Bewohner der ländlichen Gebiete mit Verspätung von den historischen Ereignissen, manchmal sogar erst Tage später. Meistens waren die Postbeamten die ersten, die die Nachricht erfuhren, denn von Prag aus rief man die Postämter in der Provinz an. An die Veränderungen, die dieser Tag mit sich brachte, erinnert sich der damals sechsjährige Josef Koblasa wie folgt:
"Am Morgen gingen wir von der Schule auf den Marktplatz von Sobeslav. Dort waren viele Menschen, die alle "Hurra" riefen. Wir Jungen durften damals mit Steinen auf Österreich-Ungarische Schilder werfen. Bei uns im Dorf feierten am Abend alle auf dem Dorfplatz und verbrannten Bilder vom Kaiser. Am nächsten Morgen gingen wir wieder in die Schule und mussten morgens nicht mehr beten."
Anders als die Tschechen erlebten die in den Böhmischen Ländern lebenden Deutschen die Entstehung der Tschechoslowakei. In den Zeitungen wurde den Tschechen von Herzen zur Entstehung ihres Staates gratuliert. Dabei gingen die Deutschen davon aus, dass sie selbst zu Deutschösterreich gehören werden. Am 29. Oktober wurde die Provinz Deutschböhmen ausgerufen. Das nordböhmische Reichenberg, heute Liberec, sollte Sitz der Provinzregierung werden. Am 30. Oktober erschien in der Reichenberger Zeitung folgender Artikel über die dortige Stimmung:
"Dem Akte der Konstituierung Deutschböhmens wurde in Reichenberg, das ja zum Sitze der provisorischen deutschböhmischen Landesvertretung ausersehen ist, mit einer festlichen Beflaggung Rechnung getragen, mit welcher das Rathaus den Anfang machte. In den Strassen unserer Stadt herrschte heute ein überaus reges Treiben und es kam besonders auf dem Marktplatze zu grösseren Menschenansammlungen... Was für Wandlungen sich über Nacht auch bei uns vollzogen haben! Die hier garnisonierenden tschechischen Soldaten, welche sich gestern noch, wenn auch gezwungener Massen, als Angehörige der k.u.k. Armee fühlten, haben sich über Nacht zu tschechoslowakischen Legionären gewandelt. Statt der Kokarde trugen sie die tschecho-slowakische Trikolore auf den Kappen und zogen so ostentativ durch die Stadt."
In einem Komentar der in Prag erscheinenden Zeitung Bohemia ist sowohl die Freude über das Kriegsende als auch die Sorge über die Zukunft zu spüren:
"Das freie Deutschböhmen ist heute eine ebensolche Tatsache wie der freie tschechoslowakische Staat. An diesem Tage der Freude, die die beiden Nationen des gewesenen Böhmens in voller Freiheit und Unabhängigkeit einander gegenüber findet, kann nur dem Wunsche Ausdruck verliehen werden, dass sie beide in gegenseitigem Respekt vor dem heiligsten Gut jedes Volkes, der nationalen Freiheit, sich nach langem Streit in friedlicher Nachbarschaft finden werden. Das freie Deutschböhmen streckt dem freien tschechoslowakischen Staat die Hand zu freundschaftlicher Auseinandersetzung entgegen. Wollen wir hoffen, dass sie ergriffen wird."
Zum Abschluss des heutigen Geschichtskapitels bleibt anzumerken, dass Österreich-Ungarn erst am 3. November 1918 ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet hat - die Note Wiens vom 27. Oktober wurde in Prag also falsch interpretiert, so entstand der tschechoslowakische Staat am 28. Oktober und nicht erst am 4. November. Sie hörten die "Meditation auf den alttschechischen Choral Heiliger Wenzel" von Josef Suk, komponiert während des 1. Weltkriegs.