Der heilige Wenzel zwischen Legende und Realität
An diesem Freitag ehren die Tschechen den heiligen Wenzel, ihren wichtigsten Landespatron. „Tag der tschechischen Staatlichkeit“ steht dafür im Kalender. Dieser Ausdruck weist auf die Anfänge des tschechischen Staates im 10. Jahrhundert hin. Um die Entstehung soll sich Wenzel der Überlieferung nach verdient gemacht haben. Die Historiker wissen jedoch schon seit langem, dass sich dies nicht so einfach behaupten lässt.
Der heilige Wenzel war ein Fürst aus dem Geschlecht der Přemysliden. Dieses Adelsgeschlecht war im 10. Jahrhundert das bedeutendste in den Böhmischen Ländern. Zahlreiche Legenden schildern Wenzel als gebildeten, mutigen und frommen Herrscher, der für die Tschechen einen festen Platz im christlichen Europa erkämpfte. Am 28. September 935 wurde er von seinem Bruder Boleslav ermordet. Nach seinem Tod soll er noch viele Wunder geleistet haben, und er schützt auf ewig die Tschechen von seinem himmlischen Thron aus. So ist die Geschichte des heiligen Wenzel überliefert, und so wird sie seit mehr als tausend Jahren erzählt. Diese Erzählungen lassen sich aber nicht mit der wahren Geschichte gleichsetzen, sagt der Historiker und Archäologe Jiří Sláma.
„Legenden waren im Mittelalter eine sehr beliebte Literaturgattung. Ihr Ziel war grundsätzlich die Huldigung von Heiligen. Autoren dieser Texte waren vor allem Mönche und Priester, die als einzige damals schreiben und lesen konnten. Sie sahen das Ideal des Christentums im Mönchsleben, und in diesem Sinne beschrieben sie auch die Person von Wenzel. Der Fürst war nicht Fürst, weil er auf dem Thron saß. Der Fürst von damals musste ein harter, rücksichtsloser Kämpfer sein, unnachgiebig gegenüber seinen Feinden. Die Mönche rückten aber noch ganz andere Eigenschaften in den Vordergrund. Hier besteht also ein Widerspruch zwischen dem Bild von Fürst Wenzel in den Legenden und der wahren Person.“
Die ersten Legenden zum heiligen Wenzel entstanden etwa um 970, also ein paar Jahrzehnte nach Wenzels Tod. Ihre Autoren waren Mönche, die aus Regensburg nach Böhmen kamen. Sie haben wahrscheinlich Menschen getroffen, die Wenzel kannten, und von ihnen einiges über das Leben des Přemysliden-Fürsten erfahren. Die Hinzudichtungen in ihren Schriften verschleierten jedoch die historische Realität.
Andere historische Quellen aus Wenzels Zeit bestehen leider nicht. Die Chroniken aus dem 11. und 12. Jahrhundert, die über Wenzel berichten, lassen sich ebenso nicht gerade als glaubwürdig bezeichnen, denn sie haben viele Angaben gerade aus den Legenden übernommen. Eine gewisse Vorstellung von der Person des tschechischen Landespatrons lässt sich daher nur aus dem allgemeinen Geschehen in Böhmen zur damaligen Zeit gewinnen, glaubt Jiří Sláma:
„Es war damals eine Zeit des Umbruchs. Zwei Staaten, die die politische Entwicklung im 9. Jahrhundert im Mitteleuropa bestimmt hatten, gingen zugrunde: das Großmährische Reich und das Ostfränkische Reich. Statt ihrer entstanden mehrere Herzogtümer, vor allem Sachsen erlangte Bedeutung. Fürst Wenzel geriet in Konflikt mit diesem Nachbarn, aber er konnte den Konflikt auf politischem Weg lösen. Er ließ eine große Rotunde auf der Prager Burg errichten, die dem in Sachsen sehr beliebten heiligen Veit geweiht wurde. So wurde der Grund gelegt für den heutigen Veitsdom als geistiges Zentrum des Landes. Wenzel bekannte sich durch den Bau der Rotunde zum Christentum, das sich in Westeuropa schon früher durchgesetzt hatte. Als dann im Jahr 929 der sächsische Herzog Heinrich I. mit seinen Truppen in Böhmen einfiel, musste er diese Tatsache respektieren. Er konnte mit den Tschechen nicht wie mit anderen slawischen Stämmen verfahren, die noch nicht zum westlichen christlichen Kulturkreis gehört hatten.“ Wenzels Bekenntnis zum Christentum bedeutete laut Historiker Sláma aber keinen wirklich großen Umbruch. Diese Religion war in den Böhmischen Ländern dank der Mission der Aposteln Kyrill und Method bereits stark verankert. Darüber hinaus hatte es zuvor mehrere Kontakte zwischen den böhmischen Fürsten und den bayerischen Herrschern gegeben. Das Bistum in Regensburg betrachtete auch Böhmen als sein „Interessensgebiet“.Wenzel bereinigte den Konflikt mit Sachsen auf diplomatischem Weg: Er verpflichtete sich, Herzog Heinrich ein so genanntes „Tributum pacis“ zu zahlen, so etwas wie eine „Friedensgebühr“. Worin diese Gebühr genau bestand, ist leider nicht bekannt. Viel später, im 19. Jahrhundert, behauptete der Historiker František Palacký, dass sie aus 500 Stücke Silber und 120 Ochsen jährlich bestanden haben soll. In jedem Fall erzürnte diese Tributzahlung Wenzels Bruder Boleslav. Der Historiker Ladislav Jouza:
„Es lässt sich vermuten, dass beide Brüder sehr unterschiedlich waren. Den Legenden nach soll der heilige Wenzel ein milder und frommer Herrscher gewesen sein, der gerne in den Weinbergen arbeitete oder Gefangene freiließ. Sein Bruder Boleslav wird dagegen als harter Krieger geschildert, der die Böhmischen Länder zusammenführte und so die Grundlage des tschechischen Staates schuf. Es scheint deshalb logisch zu sein, dass es zwischen ihnen zu Konflikten kam. Boleslav hatte eine andere Vorstellung von der Herrschaft im Fürstentum, und das sowohl bei den inneren Verhältnisse, als auch in der Außenpolitik zu Deutschland.“ Der Konflikt endete schließlich tragisch: 935 wurde Wenzel von seinem Bruder ermordet. Der Mord geschah in einer Pfalz nördlich von Prag, die Wenzel für Boleslav bauen ließ. Die zugehörige Stadt trägt bis heute den Namen des Bruders, es ist Stará Boleslav / Altbunzlau. Nachdem er seinen Bruder aus dem Leben befördert hatte, übernahm Boleslav die Herrschaft in dem Teil der Böhmischen Länder, der den Přemysliden gehörte.In den Legenden wird der Mord in unterschiedlichen Versionen geschildert. Eine Version erzählt Folgendes:
„Boleslav lud seinen Bruder zu sich zu einem Festmahl anlässlich des Michaelistages. Am nächsten Morgen, noch vor der Dämmerung, begab sich Wenzel wie üblich zur Andacht. Unterwegs traf er Boleslav und sagte: ‚Gestern hast du uns schön gedient, Gott sei dank!’ Boleslav antwortete: ‚Heute will ich dir so dienen!’ und schlug Wenzel mit dem Schwert auf den Kopf. Wenzel war nur leicht verletzt, aber er wehrte sich nicht, um das Blut seines Bruders nicht zu vergießen. Dann rief Boleslav seine Kumpanen herbei und diese erschlugen Wenzel.“Laut einer anderen Legende könnte sich das Verbrechen aber auch so zugetragen haben:
„Am Michaelistag war Wenzel bei seinem Bruder zu Gast. Nach dem Festmahl bedankte sich Wenzel bei seinem Gastgeber und sagte, er sei müde und wolle sich schlafen legen. Da stand Boleslav dreimal auf, um so ein Zeichen zu geben. Seine Kumpane umzingelten Wenzel, und einer von ihnen schlug ihm mit dem Schwert auf den Kopf. Er fand aber nicht die Kraft, um ihn zu töten. Der verletzte Wenzel blickte Boleslav in die Augen und sagte ruhig: ‚Gott bei dir, mein lieber Bruder.’ Dann ging er langsam weg. Alle blieben erstaunt stehen. Boleslav lief aber los, holte seinen Bruder ein und durchstach mit einem Schlag dessen Brust.“
Wie auch immer der Tathergang gewesen sein mag: Ohne Zweifel ist es der bedeutendste Mord der tschechischen Geschichte. Denn der Brudermord begründete die mittlerweile tausendjährige Tradition des heiligen Wenzel. Bald nach seiner Tat ließ Boleslav die sterblichen Überreste von Wenzel nach Prag bringen und in der St.-Veit-Rotunde auf der Prager Burg begraben. Dies war nach den damaligen Gepflogenheiten praktisch eine Heiligsprechung. Doch warum hat Boleslav so gehandelt?„Die Beweggründe für Boleslav lassen sich auf zwei Ebenen finden: Zur Festigung der politischen Macht war es für ihn sehr wichtig, einen Heiligen in seinem Adelsgeschlecht nachweisen zu können. Im frühen Mittelalter erhob diese Tatsache die Přemysliden zu einem der führenden Geschlechter Mitteleuropas. Die zweite Ebene liegt in den persönlichen Erwägungen von Boleslav. Leider haben wir keine schriftlichen Dokumente, die uns Einblick geben in seine Überlegungen. Ganz sicher ist die Heiligsprechung aber nicht gegen seinen Willen geschehen. Als Fürst hatte er damals die Macht voll in den Händen, und niemand konnte ihm eine solche Sache vorschreiben“, so Ladislav Jouza
Politisch und militärisch war Boleslav nicht ein Schwergewicht. Er unternahm Heereszüge gegen die anderen Fürsten, die noch in den Böhmischen Ländern herrschten, und war dabei erfolgreich: Er konnte Böhmen unter seiner Herrschaft vereinen. Genau davon hatte schon Wenzel geträumt, doch war er nach Boleslavs Meinung nicht fähig gewesen zur Sammlung der Böhmischen Länder. Durch seine erfolgreichen Eroberungen erweiterte Boleslav sein Reich um Mähren, Schlesien und Krakau. Er bemühte sich auch die Gründung eines Bistums in Prag, was damals hohe politische Bedeutung hatte. Die Gründung gelang jedoch erst später. Und nicht zuletzt kam es während Boleslavs Herrschaft in Böhmen zu einem bedeutenden wirtschaftlichen Aufschwung. Sachlich betrachtet sollte als Begründer der tschechischen Staatlichkeit also eher Wenzels Mörder Boleslav geehrt werden. Auch solche Paradoxe kennt die Geschichte.