Der Holocaust aus Täter- und Opferperspektive – Cíleks „Gleise in den Tod“ auf Deutsch übersetzt
Der tschechische Journalist und Autor Roman Cílek hat das Unfassbare in einem Buch beschrieben. In „Slepá kolej dějín“ wird der Holocaust aus der Sicht von Tätern und Opfern geschildert. Dieses Buch hat der Historiker Werner Imhof unter dem Titel „Gleise in den Tod“ ins Deutsche übersetzt. Es wird am Donnerstag, dem „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“, am Ort des früheren Konzentrationslagers und Ghettos in Terezín / Theresienstadt der Öffentlichkeit vorgestellt.
„Das Buch gehört zum Besten, was über das Thema geschrieben worden ist.“ So hat Arnošt Lustig es in seinem Begleitwort ausgedrückt. Übersetzer Werner Imhof sagt, da könne er dem tschechischen Schriftsteller nur beipflichten:
„Und zwar, weil es wie kein anderes Buch, das ich kenne – und ich habe wirklich sehr viele zum Holocaust gelesen –, drei Aspekte verbindet: die Perspektive der Täter, die der Verfolgten, also der Opfer, und auch die juristische Aufarbeitung des Holocaust, die ja kein Ruhmesblatt in der Rechtsgeschichte darstellt.“
Fesselnde Gerichtsreportage
Roman Cílek beginnt die gut 300 Seiten (deutsche Fassung) mit einer Reportage des Gerichtsprozesses gegen den SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Karl Wolff. Dieser war praktisch der Verbindungsoffizier zwischen dem Reichsführer SS Heinrich Himmler und Adolf Hitler. Angeklagt ist Wolff damals wegen der Beteiligung an Erschießungen in der weißrussischen Stadt Minsk im August 1941 und den Massenmorden an Juden im besetzten Gebiet Polens in der zweiten Jahreshälfte 1942. Im Buch heißt es:
„Je kürzer sich der Angeklagte immer dann fasste, wenn von der Ausrottung der Juden die Rede war – also dem Kern der Anklage –, umso beredter argumentierte er in Fällen, wo er in einem bessern Licht glaubte erscheinen zu können. Artistisches Balancieren zwischen den beiden Enden eines Seils: Einerseits betonte er seinen geringen Informationsstand alle grundlegenden Fragen betreffend und mithin eigentlich die Bedeutungslosigkeit seiner Funktionen in der SS – andererseits sprach er gerne über seine außergewöhnliche Stellung innerhalb des ‚Dritten Reiches‘, teilweise sogar in Opposition gegen den Reichsführer SS.“
Und Historiker Imhof:
„Der Prozess gegen Karl Wolff fand 1964 statt, und Cílek schildert ihn sehr ausführlich. Aber er unterbricht diese Schilderung dreimal, indem er das Schicksal von ihm persönlich bekannten Holocaust-Überlebenden beschreibt und damit eben die Perspektive der Opfer einbringt. Cílek standen die Protokolle des Prozesses gegen Karl Wolff zur Verfügung. Und er war in persönlichem Kontakt mit den drei Überlebenden, deren Schicksale er schildert.“
Einer dieser Überlebenden ist der Prager Journalist František Kraus, der seine berufliche Laufbahn beim berühmten „Prager Tagblatt“ begann. Also dort, wo der rasende Reporter Kisch arbeitete. Dazu sagt sein Sohn Tomáš Kraus, der viele Jahre lang Geschäftsführer der Föderation jüdischer Gemeinden in Tschechien gewesen ist…
„Mein Vater war ein Freund und Schüler von Egon Erwin Kisch. Dieser sah meinen Vater als jemanden, der sein Werk fortsetzen würde“, so Tomáš Kraus.
Zu den Schülern von seinem Vater wiederum habe auch Roman Cílek gehört, sagt er. Obwohl mehrere Jahrzehnte Altersunterschied zwischen beiden lagen, seien sie Freunde geworden. Und daraus entstanden dann Interviews, die Cílek unter anderem in „Gleise in den Tod“ verarbeitet hat.
Drei Jahre Tortur in NS-Lagern
Das Schicksal von František Kraus während des Holocaust wird in der deutschsprachigen Übersetzung des Buches auf knapp 60 Seiten geschildert. Es beginnt damit, dass er nur wenige Wochen vor Kriegsende im bereits befreiten Budapest in seinem Zimmer sitzt und zu schreiben beginnt:
„‚Meine Seele ist tot‘, notierte der Mann in der Budapester Familienpension – sein Name war František Kraus – und er tat es bei Anbruch des Abends und der Nacht, als der Andrang der Erinnerungen an Not und Schrecken noch stärker war, ‚ich atme zwar, ich habe mich gerettet, aber zu welchem Zweck – mit welchem Ziel…? Und eigentlich schäme ich mich auch, am Leben zu sein, während viele andere, viel wertvollere, um mich herum verschwanden ohne Wiederkehr.‘“
František Kraus überlebte die mehr als drei Jahre währende Tortur in nationalsozialistischen Lagern unterschiedlichen Typs – vom Ghetto und KZ Theresienstadt, über das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz und dessen Außenstelle Gleiwitz bis zum Arbeitskonzentrationslager Blechhammer. In Budapest versucht Kraus, das Erlittene in Worte zu fassen. So etwa die immer wiederkehrende, aber nicht nur eigene Angst vor dem Tod. Erster Tag nach der Ankunft in Auschwitz:
„Ich schleiche zurück in die Baracke, kann aber nicht mehr in das Gedränge der Schläfer eindringen, die dicht beieinander sitzen und sich gegenseitig wärmen. Ich bleibe bis zum Morgen am Eingang stehen. Als würde ich den Tod gleich an der Tür empfangen wollen. Aber er kommt nicht. Es genügt seine vertraute Gefährtin: die Apathie. Und was noch schlimmer ist: Die Angst, die einen von Sekunde zu Sekunde würgt, ändert ihre Form. Die Angst vor allem um sich selbst gewinnt die Oberhand. Die Zerstörung der Menschenwürde ist in den zurückliegenden Stunden mit vollendeter Perfidie vorangeschritten.“
Bei der weiteren Lektüre wird klar, dass es keine wirkliche Erklärung dafür gibt, warum František Kraus überlebt hat. Das Trauma jedoch sitzt tief in seiner Seele. Sein Sohn Tomáš Kraus:
„Er hat gelitten nach den schrecklichen Erfahrungen in den unterschiedlichen KZs. Und er war auch seelisch krank, kämpfte mit schweren Depressionen. Mein Vater lernte dann den heute berühmten Professor Vondráček, den Begründer der tschechoslowakischen Psychiatrie kennen. Dieser riet ihm, alles aufzuschreiben. Er sagte: ‚Du bist doch ein Schriftsteller, ein Journalist, dann schreib über alles!‘ Das hat er dann gemacht, und es war eine Art Therapie.“
František Kraus hat außerdem über sein Schicksal auch gesprochen.
„Er hat sogar mit Vorträgen für Schulen angefangen. Schon in den 1960er Jahren erzählte er in verschiedenen Schulen von seinem Schicksal und von seinem Kampf gegen den Nationalsozialismus. Oder Faschismus, wie man damals sagte“, so sein Sohn.
Die Kinder jedoch hätten von ihrem Vater, der bereits 1967 starb, nicht so viel zu dem Thema erfahren, ergänzt Tomáš Kraus:
„Ich war zu klein. Ich bin 1954 geboren worden. Meine Eltern wollten über diese Sachen mit mir nicht direkt sprechen. Sie haben jedoch alles zusammen mit Freunden der Familie diskutiert, und wir Kinder waren dabei. Damals haben wir selbstverständlich nicht gewusst, was das alles bedeutet. Trotzdem ist etwas davon vielleicht in den Köpfen geblieben.“
Was ist aber von den Massenmorden und Grausamkeiten in den Köpfen der Täter geblieben? Der Prozess gegen Karl Wolff zeigte eher ein verstörendes Bild – ein Leugnen der eigenen Schuld bis zum letzten Moment. Zitat aus dem Schlusswort des Angeklagten:
„Ich habe geglaubt, der Nationalsozialismus würde seine Unzulänglichkeiten beseitigen – aber das war nur ein Traum. Ich wurde getäuscht. Ich bitte, mir zu glauben, dass ich mich nicht im Entferntesten bewusst an der Ausrottung der Juden beteiligt habe…“
Das Gericht schenkte dem letztlich aber keinen Glauben.
Lesung in Theresienstadt
Cíleks Buch ist erst 2003 in der ersten Auflage auf Tschechisch erschienen. Der Historiker Imhof gesteht, es nicht gekannt zu haben:
„Cílek hat mich im Spätjahr 2020 überraschend angerufen. Ich kannte ihn nicht. Er war durch meine Aktivitäten für die Holocaust-Überlebenden auf mich aufmerksam geworden, durch meine Buchprojekte sowie mein Engagement gegen Rechtsextremismus – inklusive meiner Kritik am tschechischen Staatspräsidenten Miloš Zeman in diesem Zusammenhang. Er fand das sehr gut und hat mich gefragt, ob ich dieses Buch kenne und er es mir schicken dürfe. Es würde ihn interessieren, was ich als Holocaust-Experte dazu sage.“
So las Werner Imhof erstmals „Gleise in den Tod“ – und war begeistert…
„Ich habe Cílek dann gefragt, ob es das Buch schon in deutscher Übersetzung gebe. Als er verneinte, habe ich gesagt, dass ich das mache. Daraufhin habe ich beim Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds Fördermittel dafür beantragt, die bewilligt wurden, und es jetzt übersetzt“, sagt der Geschichtswissenschaftler.
An diesem Donnerstag wird am Ort des früheren KZs und Ghettos in Theresienstadt aus dem Buch gelesen. Anlass ist der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Tomáš Kraus, der Sohn des Holocaust-Überlebenden František Kraus, betont dabei, welche Bedeutung die deutsche Übersetzung hat:
„Unter anderem ist sie wichtig, weil es die Muttersprache meines Vaters war. Obwohl er eigentlich beide Sprachen beherrschte – Tschechisch und Deutsch –, waren seine Schulen allesamt deutsch. Die meisten Familien in Alt-Prag haben ihre Kinder auf deutsche Schulen geschickt.“
Bei der Veranstaltung wird Werner Imhof dann aus dem deutschen Text vorlesen und Tomáš Kraus aus dem tschechischen.
Die Lesung findet am Donnerstag, 27. Januar, im Ghetto-Museum in Terezín statt. Die Veranstaltung beginnt um 13 Uhr. Musikalisch begleitet wird sie von der Jazzband Vertigo.