Der Publizist Petr Uhl über Vertreibung, den Karlspreis und Erika Steinbach

Petr Uhl

Petr Uhl – Jahrgang 1941 - ist eigentlich über jeden Zweifel an seiner Person erhaben. Die Kommunisten sperrten ihn insgesamt neun Jahre ins Gefängnis. Er war Mitverfasser der Charta 77. Ebenso mit Václav Havel hat er ein Jahr später das „Komitee zur Verteidigung zu Unrecht Verfolgter“ gegründet. Heute ist Petr Uhl Publizist und Bürgerrechtler, er ist Demokrat und Europäer. Bis heute ist er seinen linken bis ultralinken Überzeugungen treu geblieben. Petr Uhl ist einer der wenigen Tschechen, die sich intensiv für die Verständigung mit den Sudetendeutschen einsetzen. 2008 hat er dafür den „Europäischen Karlspreis der Sudetendeutschen“ bekommen. Über den Karlspreis, seine Erinnerungen an die Vertreibung der Deutschen sowie die Aufarbeitung dieses Kapitels in Tschechien, darüber sprach Christian Rühmkorf am Donnerstagabend mit Petr Uhl.

Petr Uhl, im Jahr 2008 haben Sie den Karlspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft bekommen. Was bedeutet das Thema Vertreibung und was bedeutet dieser Preis für Sie?

„Also für mich war es kein Problem, den Preis anzunehmen, zu akzeptieren. Ich weiß nicht, warum ich diskret sein sollte. Aber zum Beispiel Petr Pithart hat es den Preis ein paar Jahre zuvor abgelehnt. Das ist die Frage. Petr Pithart hat dieselbe Meinung wie ich, vielleicht noch radikaler. Also, ich bin in der sehr kleinen Minderheit. Ich weiß, dass es in der Grünen Partei, hier und teilweise in Deutschland, Leute gibt, die diese Vertreibung als Verbrechen charakterisieren. Ich hatte viele Probleme. Das hat 1979 begonnen, als Ján Mlynárik – ohne zu sagen, dass er Ján Mlynárik ist, also anonym …“

Wir müssen vielleicht dazu sagen: Ján Mlynárik ist ein slowakischer Historiker und Unterzeichner der Charta 77. Er saß zwei Jahre im Gefängnis und wurde 1983 in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben. Mlynárik hatte sich seit den 70er Jahren auch mit der Geschichte der Deutschen in der Tschechoslowakei befasst.

„Ján Mlynárik hat uns einen Text geschickt, eine sehr starke Kritik an der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg, der eine Woche später in Paris in Svědectví, einer Zeitschrift, die Pavel Tigrid drei oder vier Mal im Jahr herausgab, publiziert wurde. Mlynárik wollte, dass die Charta 77 den Text als ihr Dokument herausgibt. Wir haben das abgelehnt. Ich erinnere mich, dass wir darüber sehr viel mit Jiří Dienstbier und anderen Leuten diskutiert haben. Und von dieser Zeit an war die Charta geteilt in drei Strömungen. Die jüngere Generation und vielleicht insgesamt 70 bis 90 Prozent der Charta-Mitglieder haben sich für das Thema nicht interessiert und haben geschwiegen. Und die, die aktiv waren in diesem Punkt, waren Leute, die gesagt haben: ‚Vielleicht war das ein Unrecht, aber kein so großes.’ Außerdem sei das im Kontext des Krieges geschehen, und wir hätten mit der deutschen Minderheit nicht gut zusammenleben können und so weiter. Aber zum Beispiel Václav Havel und viele andere haben das kritisiert und gesagt: ‚Nein! Die Vertreibung war ein Fehler, ein Verbrechen. Und wir müssen das laut sagen!’.

Charta 77

Dann habe ich die Kontakte mit Vertriebenen und mit Kindern von Vertriebenen geknüpft. Bernd Posselt ist wirklich mein Freund. Er ist meiner Meinung nach ein typischer demokratischer, europäischer Politiker. Und dass er christlich-demokratisch oder christlich-sozial ist, das kann eine Basis für Polemik zwischen mir und ihm sein, aber das kann nicht das Motiv für die Ablehnung seiner Position sein. Und dieses Schweigen hier irritiert mich. Diese Leute die nur schweigen, weil sie wissen, dass das falsch oder schlecht war und dass wir etwas sagen müssten. Heute sind es nur die so genannten Kommunisten, die ehemaligen Stalinisten, die Beneš verteidigen. Und das war 40 Jahre lang umgekehrt. Das ist nicht ehrlich.“

Sie waren ein kleines Kind, als die Vertreibung nach dem Krieg losging. Woher kommt ihre Motivation, ihr Engagement in dieser Frage?

„Ich war vier Jahre alt und etwas. Es war im Januar oder Februar in der Anglická-Straße, hier in den Königlichen Weingärten. Ich wohnte da mit meinen Eltern. Das ist vielleicht eine meiner ersten Kindheitserinnerungen. Wir guckten, schauten nach unten, wo die Deutschen aus Nusle gingen. Eine Schlange von Menschen. Jedermann mit 30 Kilo, mit Kindern und Kinderwagen. Alle zehn Meter dazwischen war ein uniformierter Tschechoslowake. Und sie sind zum Bahnhof gegangen. Und ich weiß nicht, ob der Vater oder die Mutter - aber einer von ihnen hat gesagt: ´Das ist schrecklich. Die Leute sind hier geboren, und nicht nur ihre Eltern und Großeltern. Das ist ihre Heimat, und sie müssen jetzt raus. Das ist wirklich schrecklich´. Und der andere hat geantwortet: ´Aber sie haben es verdient´. Und weil die Mutter oder der Vater – ich weiß nicht mehr, wer – nicht einverstanden war, habe ich mich an diese Politik mein ganzes Leben erinnert. Das war vielleicht die Motivation. Denn ich war ´Teilnehmer´ von dieser Vertreibung. Denn ich guckte von meiner Wohnung, meinem Haus auf die Leute, die weg mussten. Wissen Sie, Antonio Gramsci hat gesagt: ´Nur die Wahrheit ist revolutionär´. Also meiner Meinung nach brauchen wir die Wahrheit.“

Erika Steinbach
Petr Uhl, ich weiß nicht, ob Sie es schon wissen…

„Ich weiß! Steinbach!“

Das haben sie also schon mitbekommen: Erika Steinbach soll den Europäischen Karlspreis der Sudetendeutschen 2010 bekommen. Erika Steinbach, die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, ist in Teilen der Öffentlichkeit und der Politik eine sehr umstrittene Persönlichkeit.

„Wo? In welchem Land?“

In Deutschland, und in Polen sowieso.

„In Polen mehr.“

In Polen noch mehr. In Tschechien nimmt man sie nicht so stark wahr.

„In Ihrem Rundfunk war vor einer Woche ein Interview mit ihr. Das war wunderbar! Sie konnte alles sagen! Also, ich bin nicht in allen Punkten mit ihr einverstanden. Ich habe natürlich auch eine andere Meinung darüber, wer und wer wie im Krieg gelitten hat. Das ist aber eine polemische Frage und nicht die Basis. Denn alles, was sie sagt in diesem Interview – es war das erste Mal, dass ich durch den Tschechischen Rundfunk die Möglichkeit hatte, ihre Meinungen zu hören und darüber nachzudenken. Das ist wirklich schrecklich.“

Was ist schrecklich?

„Dass sie vorher keine Möglichkeit hatte, ihre Meinung in Tschechien zu präsentieren. Also ich bin sehr froh, dass Erika Steinbach jetzt den Preis bekommt. Denn sie gehört in dieses demokratische Milieu, das die Folgen des Krieges überwinden will. Die Preisverleihung wird in Augsburg sein, und ich werde dorthin fahren und Erika Steinbach gratulieren.“

Petr Uhl, haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.