Die echte Krise kommt erst noch: Tschechische Kinos nach der Corona-Pandemie

Im Corona-Lockdown waren die Kinos in Tschechien bis auf eine kurze Unterbrechung anderthalb Jahre lang geschlossen. Im Juni konnten sie wieder öffnen. Seitdem folgt eine Premiere auf die andere, und die Kinogänger wissen kaum, welchen Film sie zuerst anschauen sollen. Dennoch kann von einer Normalität nicht die Rede sein. Die Pandemie ist noch nicht vorbei, das Publikum noch vorsichtig. Zudem hat es sich an Heimkino und Streamingdienste gewöhnt. Wie dauerhaft die Veränderungen sind, die Corona im Zuschauerverhalten und im Geschäft des Filmverleihs in Tschechien verursacht hat, dürfte sich erst in den kommenden Jahren zeigen.

47. Jahrgang der Sommerfilmschule in Uherské Hradiště | Foto: Khalil Baalbaki,  Tschechischer Rundfunk

Nicht nur die Kinos haben in Tschechien wieder geöffnet. Auch Filmfestivals können in diesem Jahr erneut als Präsenzveranstaltungen stattfinden. In der vergangenen Woche ging der 47. Jahrgang der Sommerfilmschule in Uherské Hradiště / Ungarisch Hradisch zu Ende. Deren Programmdirektor Jan Jílek hat eine Erklärung dafür, warum in den Kinos in diesem Sommer ein Überangebot an Filmen herrscht:

„Nach der ersten Corona-Welle haben die Produzenten weiter neue Filme drehen lassen. Auch die Verleihe haben ihre Tätigkeit nicht unterbrochen und weiter Filme eingekauft auf den großen Filmfestivals, die – wie etwa die Berlinale – in virtueller Form stattgefunden haben. Material ist also da, es war zuvor aber nicht in die Kinos gelangt.“

Jan Jílek | Foto:  Sommerfilmschule in Uherské Hradiště

Sobald die Kinos im Juni wieder öffnen konnten, wurden sie also mit einer Fülle neuer Filme versorgt. Und dieser Zustand könnte noch bis in den Herbst andauern. Vielleicht sogar bis Weihnachten, bemerkt Jílek in seinem Interview für die Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks am Rande der Sommerfilmschule. Denn der internationale Filmhandel habe die Corona-Krise so gut es ging ignoriert und auf Tempo gedrückt:

„In Bezug auf die großen Märkte und Festivals, die teilweise schon wieder im Präsenzmodus stattfinden, wie etwa Cannes, oder eben noch virtuell, hat sich nicht viel geändert. Hinsichtlich der Einkäufe und der Handelsvertreter, die das Material anbieten, lief es dort so wie in den vergangenen Jahren auch. Das war ziemlich eigenartig, keiner hat wirklich von der Pandemie gesprochen. Und ‚Covid‘ oder ‚Pandemie‘ waren fast verbotene Wörter. Die Agenten versuchten, ihre Filme so wie früher auch zu verkaufen.“

Nun könnte man meinen, dass das aktuelle Überangebot in den Kinos eine große Verlockung für die Zuschauer ist. Doch diese geben sich vorsichtig:

Illustrationsfoto: René Volfík,  Tschechischer Rundfunk

„Die Zuschauer sind noch nicht in der ursprünglichen Masse zurückgekehrt. Wir bekommen die wöchentlichen Statistiken von der Union der Filmverleiher und wissen daher, dass die Zahlen nicht so hoch sind wie vor der Pandemie. Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Die Leute haben oft Angst vor dem Kontakt zu anderen Besuchern. Außerdem gelten immer noch einige Corona-Einschränkungen. Vereinfacht gesagt, gibt es derzeit weniger Zuschauer, als in den Sommermonaten üblich ist, aber mehr Filme.“

Filme rauschen durch die Kinos durch

Im Ergebnis würden viele Filme einfach durch die Kinos durchrauschen und nicht die Publikumszahlen erreichen, die wirtschaftlich rentabel wären, ergänzt Jílek. Nach seinen Worten sind derzeit nur echte Blockbuster, also Filme für die breite Masse, wirklich erfolgreich. Dazu zählen neben namhaften internationalen Produktionen auch tschechische Streifen wie die Komödien „Matky“ (Mütter) von Vojtěch Moravec oder „Prvok, Šampon, Tečka a Karel“ von Patrik Hartl.

Dabei bleiben aber kleine und mittlere Filmverleihe außen vor – so wie die Assoziation tschechischer Filmklubs (Asociace českých filmových klubů, AČFK), die die Sommerfilmschule in Uherské Hradiště veranstaltet. Jährlich bringt sie nur etwa fünf bis sieben Streifen in die tschechischen Kinos, zumeist aus dem Dokumentarbereich. Organisationen wie die seine seien beim Einkauf neuer Filme in Pandemiezeiten sehr viel wählerischer geworden, berichtet Jílek. Aber gerade weil sie so klein seien, hätten sie derzeit gewisse Vorteile gegenüber mittelgroßen Verleihen:

Illustrationsfoto: Michaela Danelová,  Tschechischer Rundfunk

„Kleinere Verleiher, die viele Filme auf Lager haben, müssen diese nun einfach in den Kinos unterbringen. Denn sie haben vertragliche Verbindlichkeiten und Verpflichtungen gegenüber den Verkaufsagenten. Dann kommt es leicht zu der Situation, dass es einfach nötig ist, die Filme in den Kinos zu zeigen. Das geschieht dann auch zu dem Preis, dass die Zuschauer gerade nur die bekanntesten Titel bevorzugen. Weil wir so klein sind, können wir uns dieser Situation aber beugen und überleben letztlich paradoxerweise vielleicht besser als die mittleren oder größeren Verleiher.“

In dem einen Jahr zwischen Sommer 2020 bis Sommer 2021 hat die AČFK nur einen Film in den Kinos gezeigt, nämlich die polnische Produktion „Corpus Christi“ von Jan Komasa. Lediglich 14 Tage lang lief der Streifen, bis der Lockdown die Filmhäuser wieder schloss. In dieser Situation gewann die Zusammenarbeit mit Video-on-Demand-Portalen (VoD) an Bedeutung. Auf den Webseiten von Aerovod oder DaFilms können die Zuschauer gegen eine Gebühr die Filme im Heimkino ansehen. Die AČFK habe dabei sogar spezielle Online-Vorpremieren angeboten, um ein wenig Festival-Feeling aufkommen zu lassen, so Jílek:

Aerovod

„Wir haben die Filme für VoD zur Verfügung gestellt, weil wir sie nicht länger zurückhalten wollten. Sie sollten wenigstens von ein paar Menschen gesehen werden. Und wir wollten auch unsere Verleihaktivitäten aufrechterhalten. Denn wenn wir nichts mehr zu tun gehabt hätten, wären wir untergegangen, sowohl psychisch als auch in Sachen Management. Die Zusammenarbeit verlief anhand einer sehr detaillierten und genauen Kommunikation mit Aerovod. Unsere PR-Kampagne war genau auf das 14-Tage-Fenster ausgerichtet, das es für eine Premium-VoD-Präsentation gibt. Wir haben also viel Arbeit und Mühe dort reingesteckt. Aber das eigentliche Zuschauerinteresse ist bei solchen Arthouse-Filmen, wie wir sie haben, immer noch grundlegend und nicht zu ersetzen.“

Was also, wenn sich dieses Zuschauerinteresse infolge der Pandemie und eines veränderten Sehverhaltens dauerhaft vom Kino abgewandt hat? Jílek bestätigt, dass sich das Heimkino und der VoD-Service hoher Beliebtheit erfreuen. Für den Kinoverleih bedeute dies keine rosige Zukunft:

„Die Zuschauer haben sich ziemlich daran gewöhnt, Aerovod etwa verzeichnet einen deutlichen Anstieg. Wenn wir aber auf die Ausleihgebühren schauen, dann ersetzen diese nicht die Umsätze aus dem Kinoverleih. VoD ist für uns nicht einträglich, und ökonomisch ist es nur ein Mittel, das Loch zu überkleben. ‚Corpus Christi‘ hat zum Beispiel in den 14 Tagen im Kino 4000 Zuschauer erreicht. Bei einem normalen Verlauf hätten es 15.000 Zuschauer sein können. Unsere Einnahmen mit diesem Film über VoD während der zweiten Corona-Welle lagen aber auf einem deutlich niedrigeren Level, als es in den Kinos erreicht werden kann.“

Konkurrenz durch Streamingdienste

Nach den Statistiken der Union der Filmverleiher haben die Kinos in Tschechien 2020 insgesamt gut 288.000 Besucher gezählt. Im Vor-Corona-Jahr 2019 waren es noch fast 534.000. Die Umsätze sind in dieser Zeit von 2,6 Milliarden Kronen (100 Millionen Euro) auf 906 Millionen Kronen (35,6 Millionen Euro) eingebrochen, also um etwa 65 Prozent.

Illustrationsfoto: Jakub Skočdopole,  Tschechischer Rundfunk

Vor allem kleinere Verleihe und ihr Nischenprogramm sind nun also darauf angewiesen, dass die Zuschauer wieder in die Filmsäle zurückkehren. Das beträfe vor allem die Programmkinos, sagt Jílek:

„Momentan leiden auch die mittelgroßen Filme unter den Zuständen, nicht nur die kleinen Dokus und Arthouse-Produktionen. Wir werden sehen, wie sich dies in den kommenden Monaten bis zum Herbst entwickelt. Unsere Nischenfilme bringen nur kleine Zuschauergruppen pro Veranstaltung zusammen. Bei 150 Vorführungen kommen wir vielleicht auf insgesamt 3000 Besucher, was einem Durchschnitt von 20 Besuchern pro Aufführung entspricht. Dies sind oft Gemeinschaftsveranstaltungen in den Filmklubs kleinerer Städte, in denen die Betreiber zur Vorführung noch Diskussionen oder ein Programm anbieten. Auf diese Art sammeln wir also unsere Zuschauerzahlen bei vielen Vorführungen in den kleinen Kinos des Landes zusammen. Wenn es diese nicht gibt, kommen wir eben nicht auf unsere Zahlen.“

Illustrationsfoto: Josef Kopecký,  Tschechischer Rundfunk

Für den Experten ist bisher völlig offen, ob die Menschen nach der Ferienzeit oder auch nach Ausstehen der Pandemie wieder in großer Zahl in die Kinos zurückkehren – oder ob die Filmhäuser zukünftig nur noch von echten Cineasten besucht werden. Die aktuelle Entwicklung sei weder abgeschlossen noch unumkehrbar, gibt sich Jílek vorsichtig optimistisch:

„Menschen, die den Film im großen Format genießen wollen, gehen ins Kino, weil sie das natürliche Umfeld dafür erleben wollen. Und das ist eben bisher immer noch die große Leinwand. Durchaus möglich, dass es durch die Pandemie immer weniger solche Menschen gibt. Es könnte aber genauso gut zu einer gegensätzlichen Entwicklung kommen, bei der den Leuten das Kino fehlen wird nach dieser Zeit, in der vor allem Streamingdienste wie Netflix im Fernsehen konsumiert wurden.“

Illustrationsfoto: Tumisu,  Pixabay,  CC0 1.0 DEED

Nach dem Lockdown würden sich die Räder im Kinobetrieb immer noch eher langsam in Bewegung setzen, resümiert Jílek diesen Sommer. Welche dauerhaften Auswirkungen die Corona-Krise auf die Filmverleiher und den Kinobetrieb letztlich haben wird, sei heute noch unklar und würde sich erst in den nächsten beiden Jahren zeigen:

„Dann wird es für die kulturelle Sphäre wirklich ein Kampf. Es wird sich zeigen, wer überlebensfähig ist mit seinem Budget, seinen Projektmitteln, mit staatlicher oder auch kommerzieller Unterstützung. Die kommenden zwei Jahre werden entscheidend sein nicht nur für unseren kleinen Verleih, sondern auch für die Filmfestivals. Wir werden sehen, ob und wie die kulturellen Akteure überleben. Denn wir befinden uns weiter im Stadium des Schocks, von dem wir uns erst langsam erholen. Viele schöpfen immer noch aus älteren Finanzmitteln. Die echte Krise kommt erst 2022 und 2023.“

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