Die Entstehung der Tschechoslowakei und die religiöse Wende der Gesellschaft
Die Entstehung der Tschechoslowakei vor 90 Jahren war nicht nur eine politische Wende, sondern erschütterte auch das geistliche Leben. Das religiöse Empfinden der Tschechen erlebte in der Zwischenkriegszeit eine interessante Entwicklung, deren Konsequenzen bis heute deutlich spürbar sind.
Die öterreichisch-ungarische Monarchie, unter deren Herrschaft die Tschechen bis 1918 lebten, war eng mit der katholischen Kirche verbunden. An den Schulen gab es katholischen Pflichtunterricht, die Kirche verfügte über die so genannten Matriken, also Personenstandsbücher über Geburt, Trauungen und Sterbefälle und die kirchlichen Würdenträger galten als eine verlängerte Hand der staatlichen Macht. Andere Glaubensgemeinschaften wurden nur in beschränktem Rahmen erlaubt. Je weniger die Monarchie unter den Tschechen beliebt war, desto größer wurde der Widerstand gegen die Kirche. Kein Wunder, dass sich dies in den Tagen von Revolution und Staatsgründung im Jahr 1918 äußerte, sagt der Prager Historiker Jaroslav Šebek:
„Das bekannteste Symbol der Auflehnung war die Zerstörung der mächtigen Mariensäule auf dem Altstädter Ring in Prag, wenige Tage nach dem Untergang der Monarchie. Dieses Denkmal wurde von den Leuten fälschlicher Weise als Sinnbild der Niederlage der böhmischen Protestanten im Jahr 1620 wahrgenommen. In Wirklichkeit bezog sich die Säule auf die erfolgreiche Verteidigung von Prag gegen die schwedischen Truppen im Jahr 1648. Nach dem Abriss der Mariensäule auf dem Altstädter Ring kam es zu einer regelrechten Zerstörungswelle: Sie richtete sich vor allem gegen die Statuen des Johann Nepomuk - einem Heiligen, der besonders zur Zeit der Rekatholisierung verehrt wurde. Diese Statuen wurden am häufigsten zerstört nach dem Jahr 1918.“
Die religiöse Erschütterung hängt jedoch auch mit der inneren Krise der katholischen Kirche zusammen. Bereits im Lauf des 19. Jahrhunderts verstanden viele Tschechen ihre konfessionelle Zugehörigkeit als reine Formalität, und dieser Prozess erreichte nach dem Ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt. Ungefähr eine Million Menschen traten aus der katholischen Kirche aus, ohne aber eine neue religiöse Heimat zu finden - sie wurden also bekenntnislos. Weitere Katholiken gründeten neue Glaubensgemeinschaften: 1920 entstand zum Beispiel eine nationale tschechoslowakische Kirche, die später nach dem mittelalterlichen Reformator Jan Hus benannt wurde.
„In dieser Bewegung standen zwei Gruppen gegeneinander: Die erste sah in der Orthodoxie ihr Vorbild, während die zweite eher zur evangelischen Tradition neigte. Letztere Richtung setzte sich schließlich durch. Es entstand eine ganz neue Theologie, die sogar über die Grenzen des christlichen Glaubens hinausging: Sie behauptete zum Beispiel, dass Jesus Christus nicht Sohn Gottes sei. Die tschechoslowakische Kirche versuchte also, protestantische Tradition mit liberalen Gedanken zu mischen. Das erwies sich aber bald als falsch. Es gelang ihr auch nicht, Kontakte zu anderen Religionsgemeinschaften, beispielsweise zur evangelischen Böhmischen Brüderkirche, zu knüpfen“, erläutert Historiker Jaroslav Šebek.
Die evangelische Tradition wird heutzutage vor allem gerade von den böhmischen Brüdern repräsentiert. Ihre Kirche entstand ebenfalls nach dem Ersten Weltkrieg und vor kurzem feierte sie ihr 90-jähriges Bestehen. Die Böhmische Brüderkirche war und ist nur eine kleine Religionsgemeinschaft im Land. Dennoch gehört sie heute zu den etablierten evangelischen Kirchen Europas, meint Religionsforscher Pavel Hošek.
„Die tschechische evangelische Brüderkirche ist eine typische Minderheitskirche - ihr gehört nur ungefähr ein Prozent der gesamten Bevölkerung an. Auf das geistliche Leben der Protestanten wirkt sich das jedoch positiv aus: Sie legen großen Wert auf Bildung und sind bestrebt, als Lehrer, Juristen, Psychologen oder Journalisten tätig zu sein. Die Kirche betreibt auch mehrere Verlage und Schulen sowie die evangelische Fakultät an der Prager Karlsuniversität. Und sie betreibt Wohltätigkeitsorganisationen, die von der Öffentlichkeit sehr geschätzt werden. Das alles trägt dazu bei, dass der gesellschaftliche Einfluss der Böhmischen Brüderkirche größer ist, als es der Zahl ihrer Angehörigen entspricht.“Aber zurück in die Geschichte: Eine wichtige Rolle in der antikatholischen Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg spielte auch der erste tschechoslowakische Präsident Tomáš Garrique Masaryk. Er hatte den Austrokatholizismus und die übermäßige Macht der Kirche immer wieder kritisiert. Diese Meinung fasste er in die Worte: „Jesus ja, Caesar nicht“. 1925 kam es sogar zum Konflikt mit dem Vatikan, weil Präsident Masaryk eine hussitische Fahne auf der Prager Burg hissen ließ. Papst Pius XI. berief darauf seinen Nuntius aus der Tschechoslowakei ab. Damit erreichte der Konflikt mit der Katholischen Kirche seinen Höhepunkt. Jaroslav Šebek:
„Gegen die Katholische Kirche kämpfte in den ersten Jahren der Tschechoslowakei die Mehrheit der politischen Elite: am stärksten die Nationalen Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten. In der Öffentlichkeit gewannen aber bald andere Themen an Bedeutung und die Situation beruhigte sich. Ein paar Monate nach dem Konflikt mit Vatikan fanden Parlamentswahlen statt, in denen die bürgerlichen Parteien siegten. Großen Einfluss erhielt damals auch die von dem katholischen Priester Jan Šrámek geleitete Volkspartei, die bis 1938 eine der wichtigsten politischen Kräfte war.“
Ein nächster wichtiger Schritt beim Abbau der antikatholischen Tendenzen war das Jahr 1929. Damals stand die 1000-Jahresfeier des tschechischen Nationalheiligen Sankt Wenzel an. Die Feier organisierten Staat und Kirche gemeinsam, und es nahmen etwa 600.000 Gläubige daran teil - sowohl Tschechen, als auch Slowaken, Deutsche, Ungarn und Ruthenen. Mit dieser Feier werden auch die Katholiken wieder ein wohl beachteter Bestandteil der tschechischen Gesellschaft. Das gab der Katholischen Kirche einen Anstoß zu einem gewissen Wandel im Innern:
„Besonders in den Klostergemeinschaften startet die so genannte Bewegung der geistlichen Erneuerung. In dieser Umgebung wird eine neue katholische Identität aufgebaut: statt Widerstand gegen Demokratie und Liberalismus wird überlegt, wie die Kirche in einer freien Gesellschaft sprechen soll und was sie ihr anbieten kann. Katholische Literatur entsteht, es erscheinen katholische Zeitschriften, es werden zahlreiche Jugendgemeinschaften gegründet. Zu den aktivsten Persönlichkeiten in diesem Bereich gehört der bekannte Benediktinerabt Anastaz Opasek, der später in der kommunistischen Zeit viele Jahre gefangengehalten wurde. Die Kirche gewann auch viele neue Mitglieder unter den Studenten und städtischen Intellektuellen - also in den Schichten, die die Kirche in den Jahren zuvor eher verloren hatte“, so der Historiker Jaroslav Šebek.
Das positive Verhältnis zwischen der Katholischen Kirche und der bürgerlichen Gesellschaft in der Tschechoslowakei hielt, bis 1948 die Kommunisten an die Macht kamen. Während der 40-jährigen atheistischen Propaganda im Kommunismus sank die Zahl der Gläubigen stark und verschiedene alte Vorurteile kamen wieder zum Vorschein. Prozentzahlen katholischer Glauben - Heute sind in der tschechischen Gesellschaft atheistische Tendenzen weit verbreitet.