Demokratisches Ethos und Geschacher – Wahlen und Politik in der Zwischenkriegszeit
Die Parlamentswahlen 2013 stehen kurz vor der Auszählung, und in Folge wird dann ein neues Abgeordnetenhaus zusammentreten. Vorher werfen wir einmal einen Blick in die Vergangenheit, in die Erste Tschechoslowakische Republik. Wie damals das Wahlsystem aussah, wie die Parteien zusammengesetzt waren und was ein Abgeordneter verdiente erfahren Sie nun in einem Wahlspezial.
„Auch die Politik, die politische Arbeit, sollte Arbeit im großen Stil sein, sie darf sich nicht in der Kleinlichkeit und Oberflächlichkeit des täglichen Politikbetriebs verlieren. Sie muss sich auf der einen Seite auf die Wissenschaft und ihre soliden Erkenntnisse stützen, und auf der anderen Seite sollte sie eine Kunst sein, die nur die höchsten Ziele und Ideale der Menschheit anstrebt. Mit diesem Appell und in dieser Hoffnung rufe ich sie alle zur Arbeit auf. Ich erwarte, dass diese Arbeit zum Erfolg und Gedeih unserer Tschechoslowakischen Republik und ihrer gesamten Einwohner führen wird!“
Die Abgeordneten wurden in allgemeiner und geheimer Wahl vom Volk bestimmt - jeder über 21, sowohl Männern als auch Frauen, war wahlberechtigt. Lediglich Soldaten und Polizisten durften nicht abstimmen. Jaroslav Šebek ist Historiker an der Akademie der Wissenschaften und Spezialist für die Erste Tschechoslowakische Republik:„In der Tschechoslowakei wurde nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, sowohl in das Abgeordnetenhaus als auch in den Senat. Beide bildeten die zwei Kammern der Nationalitätenversammlung. Darüber hinaus existierte in der Ersten Republik keine Fünf-Prozent-Hürde. Daher waren im Parlament zahlreiche Parteien vertreten, häufig zwischen 15 oder 20.“
Im ersten Abgeordnetenhaus 1920 saßen 16 Parteien. Ein Politiker konnte aber nicht direkt gewählt werden, wie Šebek erklärt:
„Die Mandate entfielen auf die Parteien. Das bedeutet, der Abgeordnete war nicht seinen Wählern gegenüber verantwortlich, sondern seiner Partei. Das nennt man ein gebundenes Listenwahlrecht. Dadurch konnte es nicht passieren, dass ein Abgeordneter außerhalb seiner Partei eine eigene Fraktion gründete. Im Fall, dass ein Abgeordneter aus seiner Partei austrat oder illoyal war, verlor er sein Mandat.“
Denn jeder Abgeordnete musste beim Eintritt in das Parlament eine Blanko-Rücktrittserklärung unterschreiben. Stimmte er also gegen die Fraktion, schickte der Parteivorsitzende diese Erklärung an das Wahlgericht. Danach war der Abgeordnete einen gut bezahlten Job los, wie der Historiker sagt:
„Die Abgeordneten erhielten ein verhältnismäßig hohes Gehalt, damit sie vor allem weniger anfällig gegenüber Korruption waren. Sie bekamen etwa 5000 Kronen, das war sehr viel. Eine große Villa kostete damals etwa 200.000 Kronen und verglichen damit war das Gehalt recht gut. Der Durchschnittsverdienst bewegte sich etwa zwischen 1000 und 1500 Kronen, die Abgeordneten waren also deutlich besser bezahlt.“ Die Volksvertreter erhielten auch Mittel für ein Büro und Mitarbeiter, die Gelder dafür waren aber nicht so hoch, wie es heute üblich ist. Und schon damals erhielten die Abgeordneten eine Jahresnetzkarte der Eisenbahn.Natürlich gehört zu einer Wahl auch der Kampf. Heutzutage sind die Straßen im Wahlkampf mit Plakaten zugepflastert, und man hört und sieht die Kandidaten im Radio und Fernsehen. Im Briefkasten finden sich Wurfsendungen und auf der Straße wird man von den Parteimitgliedern angesprochen. Mit Ausnahme der technischen Mittel funktionierte dies damals genauso wie heute, so Šebek:
„Der Wahlkampf wurde vor allem auf der Straße geführt, bei öffentlichen Versammlungen und Kundgebungen. Die einzelnen Parteien veranstalteten ihre Kundgebungen sowohl in den Städten, als auch auf dem Land. Und das bedeutete, dass die Abgeordneten damals in die kleinsten Gemeinden fuhren. So etwas machen sie heute nicht mehr.“
Besonders geschickt im Werben um die Stimmen zeigte sich die Sudetendeutsche Heimatfront, später die Sudetendeutsche Partei von Konrad Henlein. Sie entstand 1933 und trat für eine Einigung der Deutschen in der Tschechoslowakei unter ihrer Führung ein. Dazu betrieb sie einen intensiven Wahlkampf mit Massenkundgebungen, Aufmärschen, Plakaten und Flugblättern. Der damalige Innenminister Josef Černý, ein Mitglied der tschechoslowakischen Agrarierpartei, beschwerte sich sogar in einer Rundfunksendung im Mai 1935 darüber:„Vor mir liegt ein elegant ausgestattetes vierfarbiges Flugblatt auf satiniertem Papier, wie es sich nur gut Situierte zu leisten vermögen. In Wort und Bild schmettert es uns die Anklage entgegen: ´Jetzt Schluss! 16 Jahre habt Ihr geredet, nun werden wir handeln! ´ Das ist wahrlich ein kühnes Wort.“
Natürlich machte aber auch Černý Wahlkampf. Dazu nutzte er seine Position als Minister. In der Sendung gab er den Deutschen sogar eine Empfehlung mit auf den Weg:„Die arbeitenden Menschen unseres Staates werden in dieser harten Zeit sicher nicht irre gehen und sich zur deutschen Sozialdemokratie schlagen.“
Sein Einsatz war vergebens: Am 19. Mai gewann die Sudetendeutsche Partei zwei Drittel der deutschen Stimmen, die deutschen Sozialdemokraten verloren massiv an Unterstützung.
Neben der Wahlkampagne war auch die starke Mitgliederbasis der Sudetendeutschen Partei ein Grund für den Wahlsieg. Ein Merkmal, dass aber in der Ersten Tschechoslowakischen Republik nicht selten war. Jaroslav Šebek:
„Die Parteien in der Tschechoslowakei waren Massenparteien mit einer großen Mitgliederbasis. Der Organisationsgrad in vielen Feldern, nicht nur bei den Parteien, war sehr groß. Zum Beispiel hatte die Sudentendeutsche Partei als eine der stärksten deutschen Parteien mehr als 500.000 Mitglieder. Die tschechoslowakische National-Soziale Partei kam mit allen Unterorganisationen auf fast 400.000 Mitglieder, und generell hatte ein großer Teil der Parteien mehr als 100.000 Mitglieder. Das beweist die starke Durchorganisiertheit des politischen Lebens in der Tschechoslowakei.“Wegen der vielen Parteien im Abgeordnetenhaus wurde das Land ausschließlich von Koalitionen regiert. In der gesamten Ersten Republik hielt aber keine Koalition eine volle Legislaturperiode von sechs Jahren durch, es kam häufig zu Neuwahlen. Und viele Entscheidungen wurden in den Hinterzimmern ausgekungelt, wie der Parlamentsreporter Vladimír Sís 1937 im Radio berichtete:
„Ja, hier in den Hinterzimmern. Hier ist es bei den Plenumssitzungen lebendiger als im Sitzungssaal. Hier schlendern die Minister, die Abgeordneten und die Senatoren herum wie die Schüler Aristoteles, sie ziehen sich in die Abgeschiedenheit zurück, in die einsamen Ecken und auf die Ledersofas. In den Hinterzimmern ist es am einfachsten, hinter die verwickelten Kulissen des politischen Geschehens zu sehen, dort kann man auf die Spur von etwas Neuem gelangen. Hier ist es möglich, die besten Informationen darüber zu bekommen, was noch unter dem Deckel gart, und Pläne aufzuschnappen, die noch im Nebel liegen.“Die politische Kultur der Ersten Tschechoslowakischen Republik werde heute bei den Tschechen immer idealisiert, sagt der Historiker Šebek. Angesichts der zahlreichen aktuellen Korruptionsskandale und der Unfähigkeit, Sachpolitik auch fraktionsübergreifend zu gestalten, sei dies kein Wunder. Šebek rät aber zu einer neutraleren Sicht:
„Es war nicht so ideal, wie es mit dem Abstand von vielen Jahrzehnten scheint. In der Tschechoslowakei existierte auch damals eine ganze Reihe von Problemen und sehr viel Geschacher hinter den Kulissen, was sicher nicht zu einer ausgewogenen politischen Kultur beitrug. Und natürlich beeinflussten auch die zahlreichen Spannungen zwischen den einzelnen Nationen die politische Kultur. Allerdings existierte damals grundsätzlich ein sehr viel größeres demokratisches Ethos, dies ist allerdings unter dem Einfluss der vielen politischen, nationalen und sozialen Krisen verlorengegangen.“Politikverdrossenheit und Wahlmüdigkeit mussten die Politiker damals jedoch nicht fürchten. Denn in der Tschechoslowakei existierte die Wahlpflicht. Sie wurde streng überwacht, und wer nicht an die Urne ging, musste auf dem Gemeindeamt zehn Kronen Strafe zahlen.