Weg zum eigenen Staat: Tschechoslowakei entstand vor 95 Jahren
Man schrieb den 28. Oktober 1918, als auf der Landkarte Europas ein neuer Staat erschien. Sein Name war erst kurz vor zuvor neu erfunden worden: Tschechoslowakei. Heutzutage existiert der Staat zwar nicht mehr, seine Gründung feiern die Tschechen aber immer noch als Staatsfeiertag.
Mit diesen Worten begann ein Aufruf des tschechoslowakischen Nationalausschusses, dieser wurde von einem Balkon auf dem Prager Wenzelsplatz am 28. Oktober 1918 vorgetragen. Hintergrund war eine der größten geopolitischen Änderungen im Europa des 20. Jahrhunderts: Die Österreich-Ungarische Doppelmonarchie zerfiel, und auf ihrem Territorium entstanden neun Nachfolgestaaten. Zu ihnen gehörte eben auch die Tschechoslowakei.
Die Aussage, es sei ein „uralter Traum“ des tschechoslowakischen Volkes wahr geworden, war indes übertrieben. Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts dachte praktisch niemand an eine Selbständigkeit der böhmischen Länder. Oldřich Tůma leitet das Institut für Zeitgeschichte an der tschechischen Akademie der Wissenschaften. Er betont, dass die k.u.k. Monarchie rund 300 Jahre Bestand hatte und den Tschechen eine sichere Heimat bot.„Die Tschechen beziehungsweise Böhmen waren es in vielerlei Hinsicht gewöhnt, Bestandteil eines größeren Staatskomplexes zu sein. Dies brachte ihnen zahlreiche Vorteile, vor allem wirtschaftliche. In Böhmen waren zwei Drittel der gesamten Industrie des Habsburger Reiches konzentriert. Diese Betriebe konnten ohne Zollbarrieren einen relativ großen Markt beliefern. Manche Jugendliche aus Böhmen studierten in Wien und in anderen Metropolen, viele Menschen fanden dort auch Arbeit. Das alles wurde als Vorteil wahrgenommen.“
Tschechische Politiker waren zudem auch im Reichsrat vertreten. Grundsätzlich waren sie keine Revolutionäre, ihr Ziel war, dass Böhmen im Rahmen der Monarchie politisch gleichberechtigt wird. Vor allem die tschechischsprachigen Böhmen vermissten diese Gleichberechtigung, die deutschsprachigen hingegen weniger. Das alles änderte sich im Ersten Weltkrieg. Für die Tschechen war der Waffengang eine riesige menschliche Tragödie, an der sie kein Interesse hatten. Sie wurden gezwungen, gegen ihre slawischen „Brüder“ zu kämpfen - vor allem gegen Serben und Russen. Die Tschechen hielten dies für unerhört und zudem nicht gerechtfertigt. In der Folge entstanden daher tschechische Legionen in Russland, Frankreich und Italien. Je mehr die Zahl der Gefallenen anstieg, zu deren Ehre bis heute auf fast jedem Dorfplatz ein Denkmal steht, desto stärker wuchs die tschechische Aversion gegen die Monarchie. Der Fortbestand von Österreich-Ungarn stellte für die Tschechen eine offene Bedrohung dar. Dies wurde vor allem dem ehemaligen Reichsratsabgeordneten Tomáš Masaryk klar, als er im amerikanischen Exil war. Historiker Tůma:
„Im Falle eines Sieges der Mittelmächte, also von Österreich-Ungarn, Deutschland und Italien, wäre es den Tschechen deutlich schlechter ergangen. Mit den Vorstellungen einer sprachlichen und kulturellen Gleichberechtigung wäre dann wohl Schluss gewesen. Masaryk, Beneš und seine Mitarbeiter verfolgten daher die Strategie, Europa politisch völlig neu zu gestalten. Das heißt, es war ihnen nicht so wichtig, ob die eine oder andere Seite den Krieg gewann, sondern wie Europa künftig geopolitisch aussehen würde. Ihre größte Stütze waren dabei die Vereinigten Staaten, die zur Selbstbestimmung der Völker aufgerufen hatten. Den Politikern gelang es, US-Präsident Wilson davon zu überzeugen, dass die Tschechen und Slowaken einen eigenen Staat verdienten. Auch das militärische Engagement der tschechischen Legionen half dabei, dass 1918 eine günstige Konstellation zur Gründung der Tschechoslowakei entstand.“
Am 18. Oktober akzeptierte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson Masaryks Vorschlag, die Selbständigkeit des tschechoslowakischen Volkes zu erklären. Der Text bekam später den Namen „Washingtoner Deklaration“. Wilson erwiderte Masaryk, der Vorschlag des tschechischen Politikers habe ihn sehr gerührt und er wolle Österreich in einer Weise benachrichtigen, die Masaryk gefallen würde.Nur zwei Tage später erhoben die USA zur Bedingung für die Anerkennung des Friedens, dass die Unabhängigkeit der Tschechen und Slowaken akzeptiert werden müsse. Für die Alliierten hörte in diesem Moment die k.u k. Monarchie praktisch auf zu existieren. Wenige Tage darauf kapitulierte das Reich auch militärisch.
Am 28. Oktober besetzten die Vertreter des Nationalausschusses in Prag das zentrale Getreidelager, sie wollten den Transport von Getreide an die Front verhindern. Fast gleichzeitig verbreitete sich die Nachricht, dass Österreich-Ungarn die Friedensbedingungen akzeptiert hätte. In den böhmischen Ländern brachen spontane Jubelfeiern aus, dabei kam es aber auch zu Ausschreitungen. Straßenschilder oder Firmenschilder auf Deutsch wurden heruntergerissen und es wurden die Symbole der Monarchie zerstört. Hintergrund dafür war auch die sehr schlechte Wirtschaftslage in den böhmischen Ländern. Dies schreibt der schon verstorbene Historiker Antonín Klimek in seinem Buch „Der 28. Oktober 1918“. Klimek erläuterte dies seinerzeit im Tschechischen Rundfunk:„Zu Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in Böhmen Terror, Hinrichtungen und andere Gräuel, aber die Wirtschaft brach nicht zusammen. Jeder bekam Essenszuteilungen, zwar bescheiden, aber immerhin. 1918 dagegen brach die Versorgung zusammen. Zum Beispiel bekamen Erwachsene keine Butter und Kinder nur zehn Gramm im Monat! Die Menschen stahlen die Kartoffeln direkt von den Feldern, weil sie sonst nichts zu essen hatten. Den Polizisten war sogar erlaubt, Kartoffeldiebe zu erschießen, und das geschah zuweilen auch wirklich. Zudem kam es zu Übergriffen von Hungrigen auf Bauern, denn diese nutzten nicht selten die Notlage ihrer Kunden aus und verlangten zum Beispiel für ein Kilo Mehl sogar ein Klavier oder einen Pelzmantel. Die Stadtbewohner zogen deswegen Gemüse auf den Höfen und Balkonen, manche züchteten dort sogar Hühner oder Kaninchen.“In der Slowakei herrschte ebenfalls Not, doch ihre Bewohner hatten noch einen weiteren Grund, sich von der alten Monarchie zu verabschieden. Nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867 geriet die Slowakei unter starken Druck der Ungarn. Während in den böhmischen Ländern die kulturelle Autonomie der Tschechen in bestimmtem Umfang möglich war, wurde sie den Slowaken komplett verweigert. In allen Schulen wurde auf Ungarisch unterrichtet, das Slowakische war nicht einmal als Amtssprache akzeptiert. Bis 1919 gab es auch keine Universität in der Slowakei. Deswegen galt die Vereinigung mit den Tschechen als Weg zur Befreiung. Der slowakische Historiker Vojtech Čelko von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften.
„Der 28. Oktober 1918 verhinderte die Ungarisierung der Slowakei. Die Menschen begrüßten die Staatsbildung dennoch nicht mit Begeisterung, denn sie wussten nicht, was sie erwarten würde. Es gab mehrere Vorstellungen in der Slowakei, was mit dem Land nach dem Krieg geschehen sollte. Aber schon am 20. Mai 1918 bei einer Konferenz slowakischer Aktivisten hatte der römisch-katholische Priester Andrej Hlinka aus Ružomberok gesagt, die tausendjährige Ehe mit den Ungarn habe sich nicht bewährt, deswegen müsse man gemeinsame Sache mit den Tschechen machen. Am 30. Oktober äußerte sich dann auch der slowakische Nationalrat offiziell in diesem Sinn. Das gemeinsame Zusammenleben von beiden Nationen war zwar in der folgenden Zeit nicht einfach, eines ist jedoch klar: Die Slowaken sind während der ‚Ersten Republik’, also bis 1938, politisch erwachsen geworden.“
In den folgenden Jahrzehnten entzweiten sich die beiden Brüdervölker immer weiter. Nach der politischen Wende kam es dann zum offenen Streit, und 1993 spaltete sich die Tschechoslowakei in zwei unabhängige Staaten. Trotzdem wird ihre Gründung in Tschechien bis heute als Staatsfeiertag gefeiert. Nach den Erfahrungen von Nationalsozialismus und Kommunismus gilt sie hierzulande als ein Symbol von Demokratie und Pluralität, in diesem Sinn wird sie manchmal auch stark idealisiert.