Die „Experimente“ in Chomutov: Hommage an Le Corbusier in Nordböhmen
Auf einem Hügel über der nordböhmischen Stadt Chomutov / Komotau thronen drei Wohnkomplexe aus den 1970er Jahren. „Experimente“ werden sie im Volksmund genannt. Im tiefsten Kommunismus sind die Bauten nach einer Vorlage in Südfrankreich entstanden: Der Unité d’habitation von Architekt Le Corbusier in Marseille. Liegt Böhmen also doch am Meer?
Wer auf dem Dach der Unité d’habitation in Marseille steht, blickt auf der einen Seite auf die Bergkette, die die südfranzösische Hafenstadt umschließt, auf der anderen auf das Mittelmeer. Es gibt einen Pool und einen Sportbereich auf der Aussichtsterrasse. Die Dächer der „Experimente“ genannten Häuser in Chomutov kann man nicht ohne weiteres betreten. Aber würde man oben stehen, böte sich einem ein Blick auf die Weiten Nordböhmens, die Kohlehalden, die Industriestadt, über der diese drei Bauten thronen.
Die beiden Großwohnanlagen in Frankreich und Tschechien eint mehr, als es zunächst scheinen mag. Denn die Unité d’habitation von Architekt Le Corbusier, die später auch in West-Berlin gebaut wurde, bot die Vorlage für einen sehr ähnlichen Bau in der kommunistischen Tschechoslowakei. Heute sind die drei Häuser in Chomutov eine gefragte Adresse.
Jan Rödling ist in der Nähe der „Experimente“ aufgewachsen und lebt bis heute in seiner Heimatstadt. Mit dem Verein Kuprospěchu hat er zur Geschichte der Wohnanlage geforscht und in einem der Gebäude eine kleine Ausstellung realisiert. Im Interview für Radio Prag International schildert Rödling, wie es zur Entstehung der Siedlung kam:
„Die Altstadt von Chomutov sollte wegen der Kohleförderung abgerissen werden. Auf einem Hügel über der Stadt wollte man ein ‚Neues Chomutov‘ entstehen lassen. Dazu gehörten auch die Hochhäuser mit Maisonette-Wohnungen, die ‚Experimente‘ genannt wurden.“
Diesen Spitznamen erhielten die Wohnkomplexe eben für ihre experimentelle Bauweise. Denn wie beim Vorbild in Südfrankreich und dem in den 1950er Jahren errichteten Corbusierhaus in Berlin wurden die drei Häuser in Chomutov auf Stelzen errichtet. Die V-förmigen Fundamente tragen das Hochhaus und bieten darunter vor allem Platz für parkende Autos. Die Planungen für den Bau begannen Ende der 1960er Jahre.
„Die Häuser wurden gemeinsam mit dem ‚Neuen Chomutov‘ geplant, wo 30.000 Leute unterkommen sollten. Die Bewohner sollten vor allem Industriearbeiter sein, Angestellte der Walz- und Eisenwerke. Es zogen hier aber auch Menschen hin, deren Dörfer der Kohleförderung zum Opfer gefallen waren.“
Der Architekt will nichts von Corbusiers Vorlage gewusst haben
Die drei 18 Stockwerke hohen Häuser wurden damals wie ein Windrad angeordnet. Ursprünglich sollten sogar zwei entsprechende Trios gebaut werden. Doch dazu kam es nicht. Jan Rödling:
„Die Bauarbeiten waren sehr anspruchsvoll. Denn im Gegensatz zu klassischen Plattenbauten musste bei den ‚Experimenten‘ der Beton direkt vor Ort in die Schalung gegossen werden. Das dauerte zwar länger, war aber paradoxerweise günstiger als die klassische Blockbauweise. Dennoch wollten die Firmen diese Häuser nicht bauen, denn es hielt sie auf. Mehrere vorgefertigte Plattenbauten hochzuziehen war für sie günstiger, als diese experimentellen Häuser zu errichten.“
So blieb es also bei den drei Bauten, von denen der erste 1976 eingeweiht wurde. 1980 waren dann alle drei fertiggestellt. Der Architekt, der damals für die Häuser verantwortlich zeichnete, war Rudolf Bergr. Dass sein Vorbild der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier war, wollte er sich aber auch nach vielen Jahrzehnten nicht eingestehen…
„Als wir mit Herrn Bergr gesprochen haben, war er nicht bereit, uns zu bestätigen, dass er die Inspiration aus Frankreich hatte. Vermutlich wäre das früher ein Unding gewesen, und auch uns gegenüber wollte er das nicht zugeben.“
Dennoch ist die Anlehnung an die Vorlage unverkennbar. Rechtlich sei der Bau in Nordböhmen dabei nie angefochten worden, sagt Rödling:
„In der sozialistischen Tschechoslowakei hätte man sich auf solch einen Konflikt gar nicht eingelassen. Das wäre den Verantwortlichen egal gewesen. Zudem holte man sich ziemlich oft Inspiration aus dem Westen, etwa aus Japan, oder eben aus Frankreich. Le Corbusier galt ideologisch als in Ordnung, da er marxistische und linke Ansichten vertrat. Über die Autorenrechte machte sich damals niemand Gedanken, und das wird sich nun wohl auch nicht mehr ändern.“
Balkone in zwei Himmelsrichtungen
Selbst wenn es der Architekt nicht wahrhaben will: Die Ähnlichkeit zu dem französischen Vorbild ist unverkennbar – nicht nur durch die mindestens elefantengroßen V-Fundamente, die die „Experimente“ tragen, sondern auch durch den inneren Aufbau:
„In den unteren Etagen erstrecken sich die Maisonette-Wohnungen mit vier Zimmern über drei Stockwerke. Die oberen Dreizimmerwohnungen reichen über zwei Stockwerke. Es gibt aber auch Ateliers oder Einzimmerwohnungen.“
Wegen der besonderen Bauweise dringt kein Tageslicht auf die Flure. Die Wohnungen hingegen verfügen über Fenster in zwei Himmelsrichtungen.
„Alle Wohneinheiten haben zwei Balkone in die entgegengesetzten Richtungen. In den Vierzimmerwohnungen gibt es sogar drei Balkone“, schwärmt ein älterer Herr, der seit 1978 in einem der „Experimente“ lebt. Die Konstruktion hat aber auch zur Folge, dass die Wohnungen viele Treppen haben:
„In den Dreizimmerwohnungen muss man 16 Treppenstufen überwinden. In den Vierzimmerwohnungen sind es sogar 24 Stufen“, beschreibt der Bewohner.
Und eine ältere Dame, die seit 30 Jahren in ihrer Wohnung lebt und am Stock geht, ergänzt:
„Mir gefällt es hier gut, und ich bin zufrieden. Wegen meiner Gesundheit machen mir die Treppen in der Wohnung jedoch Probleme. Aber irgendwie geht das schon. Ich sehe das als Sport an.“
Obwohl die Wohnungen nicht altersgerecht sind, erfreuen sie sich heute großer Beliebtheit:
„Alle Wohneinheiten sind permanent vollbesetzt. Die ‚Experimente‘ zählen zu den besseren Adressen in Chomutov. Die Wohnungspreise liegen auch höher als in den klassischen Plattenbauten“, führt Jan Rödling aus, der für die Partei PRO Chomutov in der Stadtverordnetenversammlung sitzt.
Fragwürdige Sanierungen
Im Laufe der nunmehr fast 50-jährigen Geschichte wurden die „Experimente“ umfassend umgebaut. Die Küchen in den Wohnungen etwa waren laut Rödling unterdimensioniert. Dahinter stand der Gedanke des kollektiven Wohnens. Das Essen sollte außerhalb der Wohnungen gemeinsam eingenommen werden. Die Kochstätten in den eigenen vier Wänden hingegen sollten nur dem Erwärmen von Fertiggerichten dienen.
„Das kam aber nicht gut an. Die Leute ließen sich nicht darauf ein, bauten ihre Küchen um, und jeder kochte für sich alleine“, sagt Jan Rödling.
Nach der Samtenen Revolution wurden die drei Gebäude privatisiert. Ein Haus gehört heute einem Unternehmen, das die Wohnungen vermietet. In den anderen beiden Immobilien sind die Wohnungen verkauft worden. Die komplizierten Eigentümerstrukturen sind es dann auch, die dafür verantwortlich sind, dass die drei „Experimente“ heute von außen ganz unterschiedlich aussehen: Eines der Hochhäuser befindet sich nahezu im ursprünglichen Zustand, die Fassade besteht aus grauem Sichtbeton. Der Bau im Uhrzeigersinn daneben wurde knallorange verkleidet. Das dritte Wohnhaus ist weiß, die Innenseiten der Balkone sind mit gesättigten Farbtönen angestrichen.
„Das Haus, das noch fast im Originalzustand ist, wurde auch teilweise gestrichen, und es wurden etwa die Loggien verglast. Bei dem zweiten Haus hat sich die Eigentümerversammlung entschieden, eine Wärmeverkleidung aus Polystyrol auf die Fassade zu pappen und alles pfirsichfarben anzustreichen. Das ist hier bei uns leider so gang und gäbe, denn es gibt keine Vorschriften. Bei der gelungensten Sanierung gibt es nur einen einzigen Eigentümer. Er hat einen Architekten aus Frankreich um Rat gebeten, und alles wurde geschmackvoll restauriert. Es ist deutlich zu sehen, dass ein Architekt daran mitgewirkt hat.“
Und auch wenn der farbenfrohe Bau recht deutlich von der Originalvorlage abweicht, entspricht er doch am meisten der Unité d’habitation, wie sie von Le Corbusier entworfen wurde. Auch da sind die Balkoninnenseiten als Kontrast zur weißen Fassade in kräftigen Farben bemalt.
Stirnrunzeln ruft bei Jan Rödling wiederum der hexagonale Bau in der Mitte der Anlage hervor. Er diente einst als Zentrum der Siedlung. Heute beherbergt er Kneipen und kleine Supermärkte. Hier wurden ebenfalls die Wände mit Polystyrol verkleidet und bunt angestrichen, zudem wurde obenauf ein Spitzdach gesetzt.
Der Architekt von einst, Rudolf Bergr, zeige sich darüber nicht gerade erfreut, sagt Lokalpolitiker Rödling:
„Niemand hat ihn nach seiner Meinung gefragt, die Besitzer haben einfach so entschieden, wie sie wollten. Das gefällt Herrn Bergr nicht, denn die Änderungen stehen im Wiederspruch zu seinem Entwurf. Er wollte Sichtbeton, rote Ziegel in den Zwischenstockwerken und Glasbausteine.“
Der heute 90-jährige Architekt projektierte vor der Samtenen Revolution etliche Bauten in Nordböhmen – von denen so manche auch schon niedergerissen wurden. Wie blickt er auf die Zukunft der „Experimente“?
„Er meinte, dass er diejenigen bedauere, die diese Häuser abreißen werden, da hier unfassbar viel Beton und anderes Material verbaut worden sei“, erinnert sich Jan Rödling an sein Treffen mit dem Architekten.