Die Klaus’sche Klausel: Juristen zur Debatte um Lissabon und die Beneš-Dekrete

ustava4.jpg

Vor einem Monat noch erschien sie ein bisschen komplizierter, die Sache mit dem Vertrag von Lissabon. Die Ratifizierung in Deutschland war noch nicht abgeschlossen, der polnische Präsident hatte ebenfalls noch nicht unterschrieben, und in Irland war sogar noch ein Referendum ausständig. Nun aber warten alle nur noch auf Tschechien. Und alle blicken auf einen, auf Staatspräsident Václav Klaus, der aus seiner Abneigung gegen den EU-Reformvertrag nie ein Hehl gemacht hat. Sein jüngster Schachzug: Klaus fordert für Tschechien eine Ausnahme bei der Anwendung der EU-Grundrechtecharta, auf die der Lissabonner Vertrag verweist. Grund: Die Beneš-Dekrete seien in Gefahr. Was ist dran an den Befürchtungen des tschechischen Präsidenten? Radio Prag hat bei Juristen nachgefragt.

Vertreibung der Sudetendeutschen
Fast 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind sie plötzlich wieder zum Thema geworden – und das nicht nur in Tschechien, sondern buchstäblich in der ganzen EU: die Sudetendeutschen, die nach dem Ende der nationalsozialistischen Besatzung der Tschechoslowakei 1945 auf Grundlage der so genannten Beneš-Dekrete enteignet worden waren. Václav Klaus, der EU-kritische tschechische Präsident, möchte eine rechtliche Garantie dafür, dass die EU-Grundrechtecharta eben jene Beneš-Dekrete nicht aushebelt. Ansonsten, so Klaus, werde er den Vertrag von Lissabon, der einen Verweis auf die Grundrechtecharta enthält, nicht unterschreiben. Hintergrund: Klaus befürchtet, dass ehemals vertriebene Sudetendeutsche oder deren Erben vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg Eigentumsansprüche in Tschechien stellen könnten.

Michal Tomášek
Michal Tomášek vom Institut für Europarecht der Karlsuniversität Prag ist von der Argumentation des tschechischen Staatsoberhaupts nicht wirklich überzeugt. Gegenüber dem Politiker Klaus übt Tomášek vorsichtige Zurückhaltung, aus juristischer Sicht aber ist die Sache für ihn eindeutig:

„Über die inneren Beweggründe des Präsidenten kann ich natürlich nichts sagen, und deshalb kann ich auch nicht beurteilen, wie berechtigt seine Befürchtungen insgesamt sind. Ich kann lediglich feststellen, dass das europäische Recht nicht rückwirkend gültig ist. Wenn also der Lissabonner Vertrag 2010 in Kraft treten sollte, dann gilt er ab 2010, und er kann keine Rechtsbeziehungen beeinflussen, die davor entstanden sind. Deshalb kann er auch keinen Einfluss auf die Beneš-Dekrete aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben. Das Verbot der rückwirkenden Gültigkeit von Gesetzen ist ein rechtliches Grundprinzip, daher ist so etwas ausgeschlossen.“

Worum geht es konkret? Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union beinhaltet unter anderem ein Kapitel zu den Eigentumsrechten der Unionsbürger. In Artikel 17 heißt es:

„Jede Person hat das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist.“

Kann diese Passage tatsächlich die Enteignungsdekrete aus dem Jahr 1945 in Frage stellen? Harald Scheu, ebenfalls vom Institut für Europarecht der Karlsuniversität Prag, glaubt das nicht:

„Für mich ist diese Argumentation nicht ganz nachvollziehbar, weil ja die Grundrechtecharta aus dem Jahr 2000 nicht wirklich etwas ändert an dem bisherigen Recht auf Eigentum, das schon seit den siebziger Jahren Teil des Gemeinschaftsrechtes ist. Schon in den siebziger Jahren hat der EuGH in Anlehnung an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte das Eigentumsrecht im Rahmen der Gemeinschaftsordnung sehr genau ausdefiniert, und die Grundrechtecharta ändert in diesem Punkt praktisch überhaupt nichts. Da gibt es eine gefestigte Judikatur, und deshalb ist es auch kein Zufall, dass seit dem EU-Beitritt der Tschechischen Republik im Mai 2004 noch keine eigentumsrechtlichen Ansprüche von Sudetendeutschen in Luxemburg vor dem EuGH verhandelt wurden.“

Staatspräsident Václav Klaus | Foto: Radio Prague International
Sollte jedoch – rein rechtlich gesehen – aus Sicht der Tschechischen Republik tatsächlich kein Grund zur Sorge bestehen, so würde das die Verhandlungen mit den EU-Partnern über eine Zusatzklausel zum Vertrag keineswegs einfacher machen. Denn was Klaus will, ist eine rechtliche Garantie, und nicht lediglich ein politisches Statement. Harald Scheu:

„Im Bezug auf dieses Argument gibt es wenige Möglichkeiten, eine Lösung herbeizuführen, weil die Lösung ja schon in der bisherigen Konzeption des Eigentumsrechts enthalten ist. Ich kann aber natürlich schwer beurteilen, welche anderen Argumente hier noch vorgetragen werden“, so Scheu.

Der Verfassungsrechtsexperte Václav Pavlíček weist ebenfalls darauf hin, dass der Lissabonner Vertrag nicht rückwirkend gültig sein kann. Was aber die Judikatur des EuGH angeht, so ist Pavlíček eher vorsichtig.

„Ich selbst glaube, man kann nicht völlig ausschließen, dass die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg sich zum Nachteil der Tschechischen Republik entwickelt.“

Ein direkter Zusammenhang mit dem Vertrag von Lissabon lässt sich aus den Aussagen der Juristen jedoch nur schwer ableiten. Abgesehen davon heißt es im Artikel 345 der konsolidierten Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union:

„Die Verträge lassen die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt.“

Doch auch in der öffentlichen Diskussion in Tschechien ist die Grenze zwischen einer juristischen und einer politischen Debatte längst verschwommen. Experten, die sich mit der Materie wirklich gut auskennen, gibt es nur wenige. Menschen, die davor Angst haben, dass eines Tages Deutsche an ihre Türe klopfen und ihr Haus oder Grundstück für sich beanspruchen, gibt es dafür plötzlich umso mehr. Erst am Freitag hat die Tageszeitung Lidové noviny eine Umfrage veröffentlicht, der zufolge 65 Prozent der Tschechinnen und Tschechen die Forderung des Präsidenten nach einem Zusatz zum Lissabonner Vertrag befürworten. 35 Prozent sind jedoch der Ansicht, dass Klaus lediglich nach einem Ausweg sucht, um den Vertrag nicht unterschreiben zu müssen.