Die Legende der tschechischen Fotografie – Josef Sudek

Josef Sudek und sein Assistent Petr Helbich in den Beskiden, 1960er Jahre (Foto: Archiv von Petr Helbich)

Setzt man die Einwohnerzahl Tschechiens ins Verhältnis zur Anzahl der hiesigen Fotografen, die sich im 20. Jahrhundert einen Namen gemacht haben, dann wird eines ersichtlich: Die Fotografie hat in Böhmen und Mähren eine ziemlich starke Position und lange Tradition. Eine der Persönlichkeiten, die diesen Bereich der Kunst im vergangenen Jahrhundert maßgeblich geprägt haben, war Josef Sudek. Er wurde am 17. März vor 125 Jahren geboren. Seine Aufnahmen von poetischen Stillleben, einem hinreißenden Spiel von Licht und Schatten sowie von Landschaftsmotiven voller Nostalgie haben mehrere Generationen von Fotoliebhabern fasziniert.

Trotz Handicaps: Sudek entwickelt Leidenschaft für die Fotografie

Josef Sudek mit seiner Kamera | Foto: Miloň Novotný

Josef Sudek begann schon in frühen Jahren, seinen Traum zu leben. Er wollte Fotograf werden. Seine ersten Aufnahmen machte er 1911, da war er gerademal 17 Jahre alt. Die Fotografie erfüllte ihn mit Leidenschaft. So konnten ihn nicht einmal die Folgen einer schweren Kriegsverletzung, die er im Jahr 1917 an der italienischen Front erlitt, daran hindern, diese Tätigkeit fortzusetzen. Mehr über das schicksalshafte Leben und die berufliche Laufbahn von Sudek weiß ein ausgemachter Kenner zu erzählen – der Fotograf und Fotohistoriker Vladimír Birgus:

„Josef Sudek ist nicht nur einer der berühmtesten tschechischen Fotografen, sondern auch einer der Schöpfer, deren Arbeit fast allen gefällt. Sudek wurde im mittelböhmischen Kolín geboren. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Sein Vater starb, als er noch ein Kind war. Sudek machte eine Ausbildung zum Buchbinder, hatte aber nicht sonderlich viel Lust, diesen Beruf jemals auszuüben. Schon vor dem Ersten Weltkrieg interessierte er sich stark für die Fotografie. Während des Krieges fotografierte Sudek verschiedene Landschaften und Prager Motive. Und nachdem er zum Militär eingezogen wurde, fing er an der italienischen Front auch Szenen aus dem Militärleben ein. Nach einer schweren Verletzung, die zur Amputation seines rechten Armes führte, kam der Beruf des Buchbinders für ihn natürlich nicht mehr in Frage. Er entschloss sich daher, die professionelle Karriere eines Fotografen einzuschlagen. Von 1922 bis 1924 studierte Sudek in Prag an der Staatlichen Grafikschule bei Professor Karel Novák, der aus Wien stammte. An diese Schule erinnerte sich Sudek gern, weil Novák sehr tolerant war und es sogar in Kauf nahm, dass er rauchte und einen vulgären Umgangston pflegte.“

Vladimír Birgus  (Foto: Archiv von Vladimír Birgus)

Josef Sudek ließ sich trotz seines körperlichen Handicaps, nicht davon abhalten, den Beruf des Fotografen auszuüben. Im Gegenteil, mit seiner Arbeit machte er schon bald auf sich aufmerksam und erlangte einen beachtlichen Ruf. Dies ist umso bewundernswerter, wenn man weiß, dass er zum Fotografieren oft Großformatkameras und schwere Stative verwendete. Natürlich brauchte er für seine Arbeit manchmal einen Assistenten. In dieser Rolle wechselte sich auch eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten ab. Darunter waren die damals in Prag lebende amerikanische Fotografin Sonja Bullaty oder Vladimír Fuka, der später als Maler bekannt wurde. Vor allem aber ist der Fotograf Petr Helbich zu nennen, der Sudek buchstäblich bis zum letzten Moment begleitet hat. Als Arzt stand er auch am Bett des Fotografen, als dieser im Sterben lag. Vladimír Birgus:

„Sudek begann als ausgesprochener Piktorialist. So passte er auch in den damaligen Trend der romantischen Fotografie, indem er verschiedene Edeldruckverfahren verwendete. Das ermöglichte ihm, die Fotos einzeln zu bearbeiten. Diese historische Technik gab er erst Anfang der 1920er Jahre auf. Damals stellte Drahomír Josef Růžička, ein amerikanischer Fotograf tschechischer Herkunft in Prag aus. Sein Stil war die reine Fotografie, bei der weder die Positive noch die Negative nachbearbeitet wurden. In dieser Zeit machte sich Josef Sudek auch als Porträt- und Werbefotograf einen Namen. Er arbeitete zum Beispiel mit dem bekannten Designer Ladislav Sutnar zusammen, der zugleich der Direktor der Staatlichen Grafikschule als auch des Verlags ‚Družstevní práce‘ war. Sudek ist Autor zahlreicher Werbeaufnahmen, angefangen vom luxuriösen Kristallglas über Aschenbecher, Zigarettenständer oder Löffel bis hin zu Porzellangeschirr. Sein Freund, der anerkannte Fotograf Jaromír Funke, war mit den neuesten Entwicklungen in der Weltfotografie bestens vertraut. Funke zeigte ihm zum Beispiel moderne deutsche Zeitschriften, so dass Sudek unwillkürlich von der ‚Neuen Sachlichkeit‘ beeinflusst wurde ebenso wie von der amerikanischen Fotografie der 1920er Jahre.“

Das Atelier von Josef Sudek in Prag,  Újezd  (Foto: Vít Švajcr)

Zweiter Weltkrieg wird Wendepunkt in Sudeks Schaffen

Der schicksalhafte Wendepunkt für Sudeks Schaffen war der Zweite Weltkrieg, als sich die Motive seiner Fotografien völlig änderten. Als Inspirationsquelle diente ihm vor allem sein Gartenatelier auf der Prager Kleinseite nahe Standseilbahn zum Laurenziberg (Petřín), das Sudek seit 1927 nutzte. Doch erst in den 1940er Jahren begann er, sich hier dem freien künstlerischen Schaffen zu widmen. In diesem einfachen Holzhaus arbeitete und lebte er bis 1959 zusammen mit seiner Schwester Božena Sudková. Danach zog er in eine Wohnung im Erdgeschoss in der Straße Úvoz 4, in direkter Nähe zur Prager Burg.

Josef Sudek: Praha panoramatická,  Ausgabe von 1959,  Verlag SNKLHU

„Unter die bedeutendsten Fotografen der Welt reihte sich Josef Sudek erst später ein, während des Zweiten Weltkriegs. In jener Zeit verlor er viele kommerzielle Aufträge, deshalb konzentrierte er sich nun auf rein künstlerische Aufnahmen. Er begann in seinem winzigen Studio, das drei Fenster hatte, zu fotografieren. Hier entstanden unter anderem seine berühmten Zyklen ‚Das Fenster meines Ateliers‘, ‚Ein Spaziergang durch meinen Garten‘, ‚Der Garten meines Ateliers‘ und ‚Stillleben am Fenster meines Ateliers‘. Die Fotos, die in der intimen Umgebung des Ateliers aufgenommen wurden, scheinen die innere Welt zu symbolisieren – abgeschottet von der grausamen Außenwelt während des Krieges. Es war auch die Zeit, in der Sudek aufhörte, Negative zu vergrößern. Stattdessen war er von der Technik der tadellosen Kontaktkopien von Negativen fasziniert. Er fing nun an, auf große Negative zu fotografieren, zum Beispiel im Format 30 × 40 Zentimeter. Und genau in diesen 1940er Jahren wurde Sudek zu dem großen Künstler, den wir heute bewundern. Seine großartige Schaffensperiode setzte sich fort bis zu seinem Tod im Jahr 1976. Es ist wirklich bewundernswert, dass Sudek auch im hohen Alter noch schöne und ausdrucksstarke Fotografien schuf.“

Für Sudeks Werk sind Bilderserien charakteristisch, die sich auf bestimmte Orte, Genres und Themenbereiche konzentrieren. In Tschechien sind sie vor allem aus zahlreichen Büchern bekannt. Eine der ersten Publikationen von Sudek war der Fertigstellung des Veitsdoms in den 1920er Jahren gewidmet. Nach dem Krieg erschienen in hoher Auflage Bücher über Prag, besonders berühmt ist der Band „Prag Panoramatisch“ von 1959. Sudek hielt in seinen Fotos aber ebenso die damalige Peripherie von Prag fest, was unter anderem die Stadtteile Libeň und Holešovice waren. Zudem fotografierte er Landschaften wie beispielsweise die Beskiden oder den mysteriösen Urwald Mionší, bei dem Sudek eine besondere Vorliebe für Bäume zum Ausdruck brachte. Ab Ende der 1950er Jahre reiste der Künstler häufig nach Nordwestböhmen, um hier die durch den Kohlebergbau zerstörte Landschaft zu dokumentieren. Wenn man die Aufnahmen betrachtet, könnte man meinen, dass Sudek die Farbfotografie aus seinem Repertoire gestrichen habe – doch das ist nicht ganz richtig. Vladimír Birgus:

Gedenktafel mit der Sudek-Büste am Haus Nr. 432/30,  Prag 1,  Újezd  (Foto: Dana Martinová)

„Es ist eine Legende, dass Sudek nur in Schwarzweiß fotografiert habe. Als wir vor einigen Jahren seine großen Retrospektiven für die Galerie ‚Jeu de Paume‘ in Paris und die ‚National Gallery of Canada‘ in Ottawa entwarfen, haben wir dort seine Farbfotografien ausgestellt. Davon gab es nicht viele, Sudek hat nur wenige farbige Polaroidbilder gemacht. Zum Ende seines Lebens kamen noch ein paar Farbfotos aus seiner Wohnung nahe der Prager Burg hinzu. Die Auswahl war nicht groß, aber Sudek hat eben auch in Farbe fotografiert.“

Sudek mimt den armen Mann, hinterlässt aber einen großen Schatz

Zweifellos war Josef Sudek eine sehr auffällige Gestalt, die in ihrem Umfeld Aufmerksamkeit erregte – sowohl durch sein Verhalten als auch durch sein Aussehen. So schien er sich über andere Menschen lustig zu machen. Zum Beispiel tat er in Briefen so, als beherrsche er weder Grammatik noch Rechtschreibung, und schrieb dem Wortklang nach. Aus weiteren Briefen im Nachlass geht jedoch hervor, dass er keine Probleme mit dem korrekten Tschechisch hatte. Viele Jahre lang baute er zudem das Image eines mittellosen Mannes auf: Er trug ständig einen abgetragenen Mantel, aß an billigen Imbissständen und gab vor, einen Bruder zu haben – dabei hatte er keinen.

Sudeks Fotografie Die letzte Rose auf dem Katalog „Die intime Welt von Josef Sudek“ | Foto: The National Gallery of Canada,  Ottawa

„Sudek lehnte es ab, Dinge zu übernehmen, nur weil sie gerade in Mode waren. Andererseits war er von der Avantgarde beeinflusst. Denn in einigen Fotos, beispielsweise bei Werbeaufnahmen oder zu Schnappschüssen in Prag, wandte er auch die sogenannte diagonale Komposition an. Doch ein echter Avantgarde-Fotograf war er nicht. Sudek blieb sich und seinem Status treu, als Fotograf keinen Modetrends zu folgen, ganz unabhängig davon, ob der Zweite Weltkrieg tobte oder die Kommunisten an der Macht waren. Er passte sich nie einer Doktrin an, sondern bewahrte stets seine Unabhängigkeit. Er mimte den armen Mann, doch als er starb, stellte man fest, welch große Schätze er besaß. Zu seinem Nachlass gehörte nicht nur die Wohnung neben seinem Atelier, sondern auch eine umfassende Kunstsammlung mit zahlreichen Gemälden bedeutender Maler. Zudem bekam Sudek angeblich die höchsten Honorare aller tschechischen Fotografen. Andererseits unterstützte er Künstler wie Emil Filla oder tschechische Studenten an der Akademie in Paris.“

Josef Sudek war einer der wenigen tschechischen Fotografen, die schon zu Lebzeiten international berühmt wurden. Seine vielbeachteten Werke wurden weltweit ausgestellt, unter anderem in Rochester, New York, Bochum oder Aachen. Seine Fotografien lassen sich in zahlreichen Sammlungen auf der ganzen Welt finden. Die größte Sammlung seiner Werke hat das Kunstgewerbemuseum in Prag, sie umfasst insgesamt 20.000 Fotos.

Der Umschlag des Buches über Sudek von Anna Fárová,  herausgegeben im Verlag Torst

„1976 fanden hierzulande zwei große Retrospektiven zu Sudeks 80. Geburtstag statt, eine in der Mährischen Galerie in Brünn, die andere im Kunstgewerbemuseum in Prag. Ihre Kuratorin war Anna Fárová. Nach dem Tod des Fotokünstlers im selben Jahr übernahm sie auf Wunsch von Sudeks Schwester Božena dessen Nachlass. Fárová teilte ihn auf: Der größte Teil ging an das Kunstgewerbemuseum, weitere Teile zum Beispiel an das Institut für Kunstgeschichte der Akademie der Wissenschaften oder an die Galerie in Roudnice nad Labem. Sie selbst bereitete eine große Monografie über Sudek vor, die im Verlag Torst veröffentlicht wurde. Mit diesem Verlag arbeitete sie ebenso bei der Herausgabe thematischer Publikationen zusammen, die bis vor kurzem veröffentlicht wurden.“

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