Die Relativität der Probleme: Böhmischer Landtag und Halley'scher Komet
Schon 1910, vor 100 Jahren also, knirscht es unentwegt im nationalen Gebälk des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn. Nicht nur die Tschechen versuchen sich in Böhmen durchzusetzen, der Gedanke von der Einheit der slawischen Völker ist auch noch nicht ganz vom Tisch. Und über all dem schwebt bedrohlich der Halley'sche Komet. So manch einer hat deshalb andere Sorgen als die Politik.
„Der Obmann der jungtschechischen Partei erklärt, die tschechischen Abgeordneten würden den Deutschen kein Lösegeld für das Aufgeben der Obstruktion zahlen. (…) Sie würden weiterhin dahin arbeiten, dass nicht allein im eigenen Lande, sondern im ganzen Reiche der tschechischen Nation die vollste Gleichberechtigung zuteil werde. Die deutsche Obstruktion habe wohl dem Lande wie der Bevölkerung großen Schaden gebracht: allein eine große Sache stehe auf dem Spiele – das Prestige der Stellung der tschechischen Nation im Lande…“
So viel zu deutsch-tschechischem Landtagsgerangel. Unterdessen bereitete man den so genannten Slawenkongress 1910 vor. Auch das meldet das Prager Tagblatt in dieser Ausgabe. Allerdings mit einem Fehler. Der Slawenkongress fand tatsächlich in Petersburg statt. In Sofia war er ein Jahr zuvor zusammengekommen. Das Tagblatt vermeldet:„Die Zahl der Delegierten, die am Slawenkongress in Sofia teilnehmen, wird 89 betragen, darunter 25 Russen, 15 Polen aus Galizien und Posen, 10 Tschechen, 10 Serben, 2 Montenegriner, 5 Kroaten, 5 Slowenen, 2 Slowaken und 15 Bulgaren.“
Auch wenn die Slawenkongresse in der Regel zu keinen konkreten Ergebnissen oder Beschlüssen führten, die beiden Meldungen lassen erkennen, wie sehr die nationale Frage in Böhmen und die slawische Frage die Gemüter bewegten.
Es gab in Böhmen jedoch auch Menschen, denen in diesen Tagen die Politik herzlich egal war. Sie fürchteten den Kometen, den Halley'schen Kometen. Astronomen erwarteten nämlich für die Nacht vom 18. auf den 19. Mai, dass die Erde den riesigen Schweif des Halley'schen Kometen durchkreuzen muss. „Es ist jedoch nicht anzunehmen“, schreibt das Prager Tagblatt, „daß in dem Schweif so große Mengen von Blausäure vorhanden sind, daß eine von verschiedenen Seiten befürchtete Katastrophe eintreten werde“.
Leider kam diese Nachricht zu spät für den 53-jährigen Brunnenbauer Michael Slavíček aus Teplitz. Der wurde nämlich…
„… an einem Baume des Turner Parkes hängend aufgefunden, jedoch noch rechtzeitig abgeschnitten und dem Krankenhause übergeben. Auf einem Zettel hatte der Lebensmüde mit fester Hand seine Generalien und das Motiv der Tat ´Furcht vor dem Kometen mit seinem Schwanz und dem Weltuntergang´ verzeichnet.“Jedoch war auf dem Zettel außerdem erwähnt, er habe nichts zu essen. Und so scheinen die Sorgen der Böhmen im Mai 1910 vor allem eines zu sein: relativ.