Die Straßen sind für alle da: Europäische Mobilitätswoche hat begonnen
Straßen sind nicht nur für Autos da. Darauf weist alljährlich die Europäische Mobilitätswoche hin. Seit Mittwoch finden in 28 Kommunen Tschechiens wieder Veranstaltungen zu alternativer Fortbewegung und nachhaltiger Verkehrsplanung in den Städten statt.
Hradec Králové / Königgrätz ist traditionell eine sehr fahrradfreundliche Stadt. Der Großteil der Autobusse des öffentlichen Nahverkehrs fährt zudem mit elektrischem Antrieb. Trotz einer nachhaltigen Verkehrspolitik bleibt die Teilnahme an der Europäische Mobilitätswoche für den hiesigen Magistrat aber wichtig. Jana Svobodová, die für die Programmkoordination verantwortlich ist, erklärt warum:
„Es ist immer noch nötig, die Menschen zur Nutzung nachhaltiger Verkehrsmittel zu animieren. Immer noch fahren viele Menschen mit dem Auto, vor allem auf kurzen Strecken oder zur Arbeit. Darum verdient es unsere Umwelt, dass wir weiter auf das Problem des wachsenden Autoverkehrs und der Luftverschmutzung aufmerksam machen.“
In Hradec Králové wurde die Aktionswoche in diesem Jahr mit einem Roller-Korso in die Umgebung der ostböhmischen Stadt eröffnet. Es sind eben Tretroller, die sich nicht nur bei Städtern einer wachsenden Beliebtheit erfreuen. Für den Individualverkehr und auf Kurzstrecken sind sie geradezu ideal, bringen außerdem den Körper in Bewegung und produzieren keinerlei Abgase.
Denn gerade diese sind zu einem erheblichen Teil für die Belastung von Umwelt und Lebensqualität in Städten verantwortlich. In Prag trägt der Autoverkehr sogar zu 90 Prozent zur Verunreinigung der Luft bei. Laut dem Bericht zum Zustand der Umwelt für das Jahr 2018 sterben an den Folgen der Luftverschmutzung in tschechischen Städten jährlich mehr als 5600 Menschen. Darum engagiert sich der Verein AutoMat für ein nachhaltiges und sauberes Mobilitätssystem, in dem jeder seinen Platz hat. Und das nicht nur anlässlich der alljährlichen Aktionswoche:
„Uns ist das Thema verschiedener Fortbewegungsformen schon seit Jahren vertraut. Egal ob jemand Skateboard fährt, mit dem Rad, E-Roller oder Auto – jeder hat ein Recht darauf. Wir sollten einen offenen Dialog darüber führen, damit wir uns alle in der Stadt gut fortbewegen können. Das ist das Hauptziel“,
so Jan Haruda, leitender Koordinator des Projekts „Do práce na kole“ / „Mit dem Fahrrad zur Arbeit“. Diesen Dialog sowie Informationsveranstaltungen und die Möglichkeit, neue Verkehrs- und Fortbewegungsmittel auszuprobieren, bietet die Europäische Mobilitätswoche nun schon seit 19 Jahren. In der Tschechischen Republik koordiniert das Umweltministerium die Aktivitäten. Vom 16. bis 22. September werden in 28 Städten und Gemeinden sowohl Errungenschaften als auch weitere Ziele vorgestellt, die Mobilität nachhaltiger gestalten, die Umwelt schützen und die Lebensqualität der Bewohner verbessern sollen.
Das Motto dieses Jahrgangs lautet „Klimafreundliche Mobilität für alle“. Das bezieht sich zum einen auf das gemeinsame Vorhaben, bis 2050 in Europa Klimaneutralität zu erreichen. Zum anderen wird ein spezieller Fokus auf Verkehrsteilnehmer mit Behinderung gelegt. Das Ziel sei eine gut durchdachte und barrierefreie Infrastruktur, sagt Anna Malsová von der Abteilung Politik und Strategie im tschechischen Umweltministerium:
„Das diesjährige Motto soll darauf aufmerksam machen, dass der Zugang und die Durchlässigkeit des öffentlichen Raums begrenzt sind. Dabei geht es nicht nur um Menschen mit Handicap, sondern allgemein um die Passierbarkeit und Orientierung in der Stadt. Da gibt es immer etwas zu verbessern. Für Menschen mit Sehbehinderung, Rollstuhlfahrer, ältere Menschen oder Mütter mit Kinderwagen kann ein schlecht geparktes Auto oder eine Säule zum Hindernis werden.“
In Prag fand dazu am Donnerstag ein „barrierefreier Tag“ statt. Hier konnten Interessierte ausprobieren, sich im Rollstuhl oder ohne Sehsinn mit einem Blindenstock in der Stadt fortzubewegen. Ohne die eigene Erfahrung einer Behinderung oder Einschränkung bleibt die Bedeutung von Barrierefreiheit vielen Menschen verborgen. Auch Politiker und Stadtplaner träfen bisweilen die falschen Maßnahmen, fährt Malsová fort:
„In den letzten Jahren wurde zum Beispiel der barrierefreie Zugang in die Prager U-Bahnzüge verbessert. Was für einen Laien als gutes Konzept erscheint, kann aber für Experten oder Betroffene ein weiteres Problem darstellen. Es ist nötig, den Verkehr als Ganzes zu betrachten.“
Verkehrsteilnehmer mit eingeschränkter Mobilität hat auch der Verein AutoMat im Blick, berichtet Jan Haruda:
„Das ist ein Thema, das noch intensiv bearbeitet werden muss. Ein Rollstuhlfahrer, der ins Prager Stadtzentrum aufbricht, trifft sehr schnell auf Barrieren. Wir erheben dazu gerade Daten, sind aber mit der Analyse noch nicht an die Öffentlichkeit gegangen. Die Stadt sollte barrierefrei sein. Und das für alle, damit die tägliche Fortbewegung allen ermöglicht und niemand diskriminiert wird, egal ob es sich um Auto-, Rad- oder Rollstuhlfahrer handelt. Alle sollten die Möglichkeit haben, sich gleichberechtigt in der Stadt fortzubewegen.“
Dauerhafte Veränderungen sind also gefragt. Auch von der Europäischen Mobilitätswoche soll etwas für die Zukunft bleiben, wenn sie nach sieben Tagen endet. Deshalb ist die Teilnahme an eine bleibende Maßnahme geknüpft, die die Kommunen zur Verbesserung ihrer Verkehrslage einführen müssen. Auf Nachhaltigkeit wird in diesem Jahr zudem eine besondere Betonung gelegt, weil das Programm mit der Europäischen Woche für nachhaltige Entwicklung verbunden ist. Die wurde nämlich Corona-bedingt vom Frühsommer auf den September verschoben.
Bei all den noblen Vorhaben sieht die Realität freilich noch ganz anders aus. Anna Malsová seufzt:
„Leider steigt der Ausstoß von Treibhausgasen weiterhin an, genauso wie die Zahl neu registrierter Autos. Es ist wichtig, sauberere Alternativen im Straßenverkehr zu fördern. Jeder neue Radweg und jedes durchgeführte Seminar zur Verkehrssicherheit ist darum eine Anerkennung wert.“
Auch Jan Haruda sieht die Dinge realistisch:
„Der Verkehr in Tschechien ist noch weit von einer Nachhaltigkeit entfernt. Die Bemühungen, das zu ändern, haben sich bisher auf Nichtregierungsorganisationen wie uns konzentriert sowie auf einzelne Enthusiasten. Angesichts des Klimawandels und auch der Corona-Krise tut sich da aber langsam etwas. Es beginnt eine Diskussion darüber, welchen Schwerpunkt der öffentliche Verkehr haben sollte und wieviel Raum Fußgängern und nicht motorisierter Mikromobilität, also zum Beispiel Radfahrern, zusteht. Das Thema gewinnt also an Popularität auch in Kreisen, die sich bisher für diese Mobilität nicht interessiert, sondern das eigene Auto für selbstverständlich gehalten haben.“
Das gilt sowohl für die Stadtbewohner als auch für die Politik. In Hradec Králové etwa legt Jana Svobodová Wert darauf, den Dialog bei der Europäischen Mobilitätswoche in alle Richtungen zu führen. Die Mitarbeiter des Rathauses und die Stadtverordneten sind etwa zu einer Diskussionsveranstaltung eingeladen, bei der moderne Konzepte der städtischen Mobilität vorgestellt werden.
„Am wichtigsten ist die Aufklärung. Die Kommunikation zwischen den Menschen und der Stadtverwaltung hat eine Schlüsselfunktion. Denn immer noch ist vielen Menschen nicht bewusst, wie wichtig ihre eigene Entscheidung für eine Fortbewegungsform in der Stadt ist. Einen Weg von anderthalb Kilometern muss man nicht mit dem Auto zurücklegen, dann zehn Minuten lang einen Parkplatz suchen und dafür auch noch viel Geld bezahlen“,
führt Svobodová aus. In Prag findet zu diesem Zwecke die Aktion „Autodiät“ statt. Hier geben Bewohner, die ihr Auto abgeschafft haben, ihre Erfahrungen weiter. Denn auch wenn bei der Europäischen Mobilitätswoche Stadtverwaltungen animiert werden sollen, für eine angemessene Infrastruktur zu sorgen, liegt es letztlich an den Bürgern selbst, wie sie diese nutzen. Anna Malsová vom Umweltministerium:
„Der diesjährige Slogan lautet nämlich: ‚Dein Stil, deine Wahl‘. Er soll zur Eigeninitiative aufrufen. Die Veränderung muss bei jedem von uns selbst anfangen, indem wir mehr zu Fuß gehen, mit dem Fahrrad fahren oder öffentliche Verkehrsmittel anstelle des eigenen Autos nutzen. Damit verbessern wir die Lebensqualität für uns und andere Bewohner der Stadt.“
Durch eine Veränderung der Fortbewegungsgewohnheiten können Stadtbewohner zudem öffentlichen Raum wiedergewinnen, von dem sie sich häufig ausgeschlossen fühlen. Eine jahrelange autofreundliche Verkehrspolitik hat den Wert von Straßen für viele Menschen stark eingeschränkt. Wer zum Beispiel in Prag regelmäßig Rad fährt, weiß, dass Autofahrer die Fahrbahnen durch teils aggressives Verhalten für sich proklamieren. Nur langsam kommt Verständnis dafür auf, dass Straßen nicht nur motorisierten Nutzern zur Verfügung stehen:
„Der Wert und die Wahrnehmung einer Straße hängt von ihrer Qualität ab. Die Qualität besteht in dem Gefühl, das uns die Straße vermittelt. Die Prager Magistrale wird von Verkehrsteilnehmern, die nicht Autofahrer sind, als negativ empfunden. Im Gegensatz dazu haben weniger auffällige Straßen einen höheren Wert. Straßen, die man bequem entlanggehen, dort auch mal anhalten und sich aufhalten, vielleicht mit Freunden einen Kaffee trinken oder unter einem Baum sitzen kann.“
Es sei wichtig, das Potential solcher Straßen für Fußgänger auszunutzen, so Malsová weiter. So könnten sich Nachbarschaftsbeziehungen ebenso wie ansässige Unternehmen entfalten.
Genau darauf zielt auch das Konzept von „Zažít město jinak“ / „Die Stadt anders erleben“ ab. Mit selbstorganisierten Nachbarschaftsfesten beteiligt sich der Verein AutoMat am autofreien Tag, dem alljährlichen Höhepunkt der Europäischen Mobilitätswoche. An 85 Orten in Prag kommen am Samstag Menschen auf den Straßen ihres Kiezes zusammen – sie feiern, diskutieren und genießen den Raum, der sonst für solche Aktivitäten nicht zur Verfügung steht. Dass der Bedarf daran aber wächst, zeigt die steigende Beliebtheit dieser Veranstaltung. Sie trägt bei zur Abkehr vom lange verbreiteten Glauben, Straßen wären nur für Autos da. Jan Haruda ist vorsichtig optimistisch:
„Dieser Trend wandelt sich langsam. Mittlerweile wird über Städte der postindustriellen Generation geredet, die für das eigentliche Leben in der Stadt bestimmt sind. Dafür müssen Möglichkeiten eines nachhaltigen Verkehrssystems geschaffen werden. Dort sind wir noch lange nicht angelangt. Aber das ist auch nichts, was unrealistisch wäre oder jahrelange Planungen erfordern würde. Es ist ein lebendiger Prozess, der sehr schnell vonstattengehen kann.“