Die Tschechen: Ein Volk der Wochenendhäusler

An jedem Freitagnachmittag ist es das gleiche Bild. In den Wohnvierteln der tschechischen Städte steigen viele Menschen in ihre bepackten Autos, reihen sich ein in die Blechkollonnen, die stadtauswärts ziehen und fahren auf die Chata, auf ihre Wochenendhäuser. Viele Tschechen verbringen dort auch ihren Urlaub. Während der kommunistischen Zeit bot die Chata Zuflucht aus den beengten Wohnverhältnissen der Plattenbauten. Auf der Chata wurde und wird gelebt, gefeiert und geliebt. Im heutigen Geschichtskapitel befasst sich Andreas Wiedemann mit Geschichte und Tradition des Wochenendhäuslertums in Tschechien.

"An jedem Freitag setzen wir uns ins Auto und fahren auf die Chata. Freitags hin und am Sonntag zurück",

sagt Roman Krejci, 32 und Ingenieur aus Prag. Wie tausende anderer Tschechen auch verbringt er fast jedes Wochenende zwischen April und Oktober im Wochenendhaus, auf der Chata. Die Chata ist ein kleines Wochenendhaus und aus dem Leben der Tschechen nicht mehr wegzudenken. Etwa 12 Prozent der tschechischen Haushalte besitzen eine Chata. In der ehemaligen DDR waren diese unter dem Namen Datscha ebenfalls sehr verbreitet. Die größere Variante des tschechischen Wochenendhauses nennt man chalupa. Eine chalupa ist häufig ein altes Bauernhaus, das als Wochenendhaus genutzt wird. Bei einer chata handelt es sich meist um ein neu gebautes kleines Häuschen.

Das englische Sprichwort 'My home is my castle' könnte man im Tschechischen eher mit 'Ma chalupa - muj hrad', meine Hütte - meine Burg wiedergeben. Die Tschechen bezeichnet man oft auch als Volk der 'chalupari', der 'Wochenendhäusler'. Der Tscheche ist im Allgemeinen stolz darauf, ein 'Homo Chatar', also ein 'Hüttenmensch' zu sein.

"Das ist auf jeden Fall der Lebensstil der meisten Tschechen, die Wochenenden vom Frühling bis zum Herbst auf der Chata zu verbringen",

erklärt die 27-jährige Jana Kralova, die schon ihr ganzes Leben lang die Wochenenden und meistens auch die Ferien in ihrem Häuschen in einer Chata-Siedlung bei Slapy verbringt. Slapy liegt rund 40 km südlich von Prag an einem Moldaustaussee. Solche Chata-Kolonien findet man fast überall in Tschechien, entweder an Flüssen oder in den Bergen, also in der Nähe von Skigebieten. Wie lange gibt es eigentlich schon diesen Lebensstil bzw. diese Tradition in Tschechien?

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs drangen die Gedanken von Ernest Thompson-Seton nach Tschechien vor. Thompson Seton war Autor von Naturerzählungen und Mitbegründer der US-amerikanischen Pfadfinderbewegung sowie der Woodcraftbewegung, eine Erziehungsbewegung, die auf Naturverbundenheit, Naturromantik und Lagerleben basierte. In Tschechien gründete der Prager Pädagoge Milos Seifert 1922 eine Woodcraft-Liga (Liga Lesní Moudrost). Für die Entstehung der Chata-Kolonien wurde aber die so genannte wilde Pfadfinderbewegung, die Tramps oder trampy, wie man auf Tschechisch sagt, wichtig. Tramps verbrachten die Wochenenden in der Natur, schliefen unter freiem Himmel oder in Zelten. Das größte Zentrum der ersten Tramps war Prag. Sie zelteten in der Nähe der Hauptstadt, später entlang der Moldau und an anderen Flüssen. Ende der zwanziger Jahre entstanden dann die ersten Holzblockhütten an den Flüssen Berounka, Sazava und Kocaba. Das war die Grundlage für viele spätere Chata-Siedlungen. Häufig erhielten diese Siedlungen wegen der romantischen Wurzeln der Naturbewegung Namen wie Ztracenka (Ansiedlung der verlorenen Hoffnung), Udolí oddechu (Tal der Erholung), Udolí desu (Tal des Schreckens) oder auch Buvoli zatoka (Büffelbucht). Die Tramplieder, die bis heute beim Lagerfeuer nicht fehlen dürfen, kamen in den 30er Jahren ins Theater, in den Rundfunk und den Film.

Das zeitweilige Bewohnen eines richtigen Hauses oder früheren Bauernhauses, also einer chalupa, erhielt erst nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Dynamik, behauptet unter anderem der tschechische Regisser Bernard Safarik, der einen Dokumentarfilm mit dem Namen 'Homo Chatar' gedreht hat. Mehr als drei Millionen Deutsche wurden aus der Tschechoslowakei ausgesiedelt. Viele der leer stehenden Häuser wurden, falls sie sich nicht in der verbotenen Grenzzone befanden, verkauft und in der Folge als Ferienhäuser genutzt.

Eine Blüte erlebte das chatarstvi, das Wochenendhäuslertum, in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, also in der kommunistischen Tschechoslowakei: Das Interesse an den Wochenendhäusern stieg deutlich an und das aus verschiedenen Gründen. Zum Beispiel waren die Wohnverhältnisse in der kommunistischen Tschechoslowakei in den großen Städten sehr beengt, wie Roman Krejci erläutert:

"In der Zeit des Kommunismus konnten die Menschen nicht richtig bauen. In den Städten wurden viele Plattenbauviertel geschaffen. Die einzige Möglichkeit, wie die Menschen ihre eigenen Vorstellungen vom Wohnen etwas realisieren konnten, war auf der Chata. Dort konnte man zum Beispiel einen Garten anlegen oder einfach am Haus arbeiten."

Die Datscha ermöglichte die Ausübung einer individuellen Tätigkeit im kollektivierten Staat, sie befriedigte ein wenig die Sehnsucht nach der eigenen Scholle. Für viele Menschen war die Chata in der kommunistischen Zeit aber auch ein Urlaubsort.

"Das hängt damit zusammen, dass die Menschen damals keine Möglichkeit hatten, viel ins Ausland zu reisen. Das heißt die Menschen haben ihren Urlaub in ihren Wohnungen verbracht oder auf den chatas bzw. chalupas", so Roman Krejci.

In der kommunistischen Tschechoslowakei bot die Chata aber auch eine Zuflucht. Sie war ein Ort, der etwas weniger unter der Kontrolle und Aufsicht der Staatsorgane stand. Der Schriftsteller und spätere Präsident Vaclav Havel konnte seine Werke nicht verkaufen, seine Theaterstücke nicht aufführen. Auf sein Wochenendhaus lud er aber Freunde ein und konnte seine Texte in kleinem Kreis präsentieren.

Nach dem Ende des Kommunismus sah es zunächst so aus, als wäre das Chata-Phänomen vorbei. Die Menschen reisten verstärkt ins Ausland. In den letzten Jahren erleben die Wochenendhäuser aber eine Renaissance.

"In der Zeit nach der Revolution haben viele Menschen versucht, ins Ausland zu reisen, also das kennen zu lernen, was sie vorher nicht erleben konnten. Aber im Laufe der Zeit ist die Mode der Chata zurückgekehrt. Viele Menschen haben gesehen, was sie sehen wollten oder festgestellt, dass für sie ein Urlaub am Meer nicht so attraktiv ist und lieber wieder auf die Chata fahren. Sie investieren ihr Geld in ihre Häuschen und verbringen dort ihre Zeit",

sagt Roman Krejci. Denjenigen, die sich nicht zu den stolzen Besitzern einer solchen Ferienbehausung zählen können, bieten sich viele Möglichkeiten, eine Hütte zu mieten. In den Urlaub zu fahren ist immer auch eine Geldfrage, je nach dem, wohin es gehen soll. Viele der Chatabesitzer in Slapy sind zufrieden, dass sie in dem schönen Moldausee baden gehen können und dort ihre Ferien verbringen. Jana Kralova:

"Ich fahre schon gerne ans Meer, aber das kommt auf unsere finanziellen Möglichkeiten an. Die Chata ist auf jeden Fall das Preiswerteste."

Etwa 40 Prozent der Tschechen verbringen ihren Urlaub im Ausland, aber immerhin 38 Prozent auf der heimischen Datscha.

Nach 1989 hat sich das Chatawesen an einigen Orten verändert. Vor allem in den letzten zehn Jahren ist die Nachfrage nach den Häuschen stark gestiegen und deswegen zogen auch die Preise an. War früher der Besitz einer Chata nicht in erste Linie eine Geldfrage, so kann sich heute häufig nur noch ein kaufkräftigeres Publikum leisten, neu in das Chata-Leben einzusteigen. Auch investieren die Menschen heutzutage mehr in ihre Wochenendhäuser als früher. Zuzana Cubova, die ebenfalls ihre Wochenenden in Slapy verbringt, sieht da eine Veränderung zu früher:

"Im Kommunismus war die Konkurrenz zwischen den Menschen nicht so groß, wer die beste Chata hat. Heute investieren die Menschen mehr Geld in ihr Häuschen und wollen das auch zeigen. Früher war das nicht so wichtig. Wir hatten zum Beispiel die schlechteste Chata, das war aber egal."

Die meisten Besitzer von Wochenendhäuschen gibt es heutzutage in Prag-Ost, Prag-West, Brno / Brünn, Usti n.L. / Aussig, Olomouc / Olmütz und Frydek-Mistek / Friedeck-Mistek. Die Immobilienbüros melden eine steigende Nachfrage nach Wochenendhäusern. Diese übersteigt das Angebot, weil nur wenige Chata-Besitzer ihre Hütte verkaufen wollen. Mit diesen ist schließlich häufig die ganze Familiengeschichte verbunden, wie Roman Krejci ausführt:

"Meine Eltern sind auch schon regelmäßig auf die Chata gefahren. Damit haben sie in den sechziger Jahren begonnen."

So setzt Roman diese Tradition fort. Die Chata zu verkaufen kann er sich nicht vorstellen. Genauso wie Jana Kralova, für die es auch in Zukunft am Wochenende heißen wird:

"Ich fahre auf die Chata, jeden Freitag."